Fakten und Fiktionen.
1. Im Herbst 2009 wurde im Museum Haus Esters Karin Kneffels Projekt „Haus am Stadtrand“ eröffnet. Es handelte sich um eine eindrucksvolle und ungemein inspirierende Ausstellung. Auf Einladung von Martin Hentschel, dem Direktor der Krefelder Museen, hatte die Malerin einen thematische kohärenten Zyklus von Werken geschaffen, die sich einerseits deutlich von den indifferenten Manifestationen unterscheiden, die der hektische Kulturbetrieb allenthalben hervorbringt, andererseits aber auch auf jeden Aplomb verzichten. Gezeigt wurden 14 Gemälde unterschiedlichen Formats, die nicht nur durch ihre malerische Qualität beeindruckten, sondern auch durch ihre motivische Bindung an den Ort des Geschehens.
Schnell wurde nämlich deutlich, dass hier die Architektur des ursprünglich als Wohnhaus genutzten Baus thematisiert wurde. Räumliche Struktur der Innenansichten, Fensterformen und verschiedenen andere Details ließen erkennen, dass man sich als Ausstellungsbesucher an einem Ort befand, auf den sich die Gemälde unmittelbar bezogen. In das Heute waren jedoch geschichtliche Reminiszenzen ebenso eingestreut wie Beobachtungen von Phänomenen, die auf andere Zusammenhänge deuteten und befremdeten. Außerdem kreuzten sich manche Blickachsen. Spiegelungen, Reflexlichter und partielle Verschwommenheiten führten zu einer latenten Verunsicherung. Als Betrachter sah man sich daher alsbald mit einer Überlagerung und Durchdringung verschiedener Perspektiven konfrontiert. Was man beobachtete, verlor rasch alle vermeintliche Eindeutigkeit und offenbarte Zug um Zug eine Widersprüchlichkeit, die sich zu verstärken schien, je länger man die Darstellungen zu begreifen versuchte.Bereits diese summarische Skizzierung macht die ästhetischen Strategien der Malerin in Umrissen erkennbar. Das ist früh gesehen und erörtert worden. So hat, um nur eine bemerkenswerte Analyse in Erinnerung zu rufen, Annelie Pohlen 2006 in einem begrifflich stringenten und anschaulichen Essay die Wirkung der Bilder Karin Kneffels als Verschränkung von Verführung und Distanz beschrieben. „Alles Wirkliche“, so heißt es, „ist spiegelnder Widerschein in der Malerei, die sich dem raffinierten Kalkül einer abstrakten Komposition verdankt. Die dem Gegenstand je angemessene Präzision vermag für kurze Momente über die Wirklichkeit hinwegzutäuschen, um schließlich dem Imaginären jene beunruhigende Präsenz zu verleihen, die vereinnahmt und verstört.“
In der Tat, imaginär erscheint vieles, was auf den so beeindruckenden Darstellungen der Künstlerin zu sehen ist. Das lässt sich auch an thematisch verwandten Werken nachvollziehen, die teilweise nach der Ausstellung von 2009/2010 entstanden sind. Auch auf ihnen sind die wiedergegebenen Dinge durchaus erkennbar, doch erscheinen sie mehr oder weniger verschwommen. Auffällig ist, dass etliche Gemälde eine vordere Bildebene aufweisen, die von rundlichen Gebilden dominiert werden, die an Wassertropfen erinnern. Verweisen wir hier exemplarisch auf ein Interieur (2010/ 03), das uns den Blick in ein Wohnzimmer erlaubt. Ein schweres Polstermöbel, Orientteppiche, großer blauer Vorhang und andere Details verweisen auf ein großbürgerliches Ambiente der Vergangenheit, während das aufgeschlagene Buch mit Brille, das große Bücherregal, Bilder und die Plastik von Wilhelm Lehmbruck auf Kultur und Bildung der abwesenden Bewohner deuten. Die Komposition berührt sich mit einem anderen, 2009 entstandenen Werk.
Dort findet sich auf dem linken Teil des Triptychons das Tulpenarrangement wieder und auch die scharf konturierten Tropfen mit den Reflexlichtern beherrschen hier wie dort die vordere Bildebene. Und übernommen sind auch kreisrunde Spotlights, die über Wand und Gardine gleiten. Mit diesen optischen Elementen arbeitet die Künstlerin auch in einem anderen Bild (2011/02), das seinerseits die Motive der beiden anderen Tafeln des Triptychons auf einem quadratischen Gemälde vereint.Die wenigen Hinweise lassen bereits deutlich werden, dass die Malerin mit spezifischen Motivkomplexen operiert, die auf anderen ihrer Arbeiten in ähnlicher oder leicht verwandelter Form wieder auftauchen. Auch wenn die generelle Thematik beibehalten wird, häufig wandelt sich der anschauliche Charakter, so dass sich auch die Wirkung des Gemäldes verändert. Das geschieht beispielsweise, wenn Tropfen- und Wasserspuren getilgt bzw. auf ein Minimum reduziert werden (2012/01).
Oder es wird (2011/17) ein anderer Blickwinkel gewählt. Manchmal sind verschiedene Details eliminiert, das Kolorit erscheint aufgelichtet oder die Gegensätze von hell und dunkel verstärken sich. Solche Transformationen höhlen das Gegenständliche aus und lassen die Darstellungen insgesamt abstrakter erscheinen. Jedenfalls erschwert sich ihre Lesbarkeit.Für die Brechung der vordersten Bildebene und die damit einhergehende Unschärfe und Entstofflichung der weiter entfernten Sujets setzt Kneffel wiederholt Streifen von Kondenswasser (2011/04) oder die bizarre Wassertropfen (2011/3; 2011/17; 2011/19) ein. Sind die Konturen dieser Elemente deutlich markiert, ihre Transparenz zurückgenommen und ein goldener Schimmer generiert, mag man sich vage an honiggelbe Bernsteine erinnern (2010/3; 2011/2). Daneben gibt es Darstellungen, die eher einer Sphäre unter Wasser oder der Außenseite eines Aquariums ähneln (2013/32, 2013/33).
In den letzten Jahren ist es wiederholt beschlagenes Glas, das wie eine Art Filter fungiert. Diese hauchdünne Membran legt sich über die Bildwelt, verbindet sich mit ihr, erschließt und verfremdet sie. Um an diesem Sachverhalt keine Zweifel aufkommen zu lassen, wird dem Betrachter vorgeführt, wie jemand mit dem Finger in den Wasserdampf auf der Scheibe etwas geschrieben oder gezeichnet hat. Angespielt wird somit auf alltägliche Erfahrungen. Bei großen Temperaturunterschieden zwischen innen und außen und entsprechender Luftfeuchtigkeit beschlagen im Winter die Fenster und beeinträchtigen den Blick nach draußen oder machen ihn gar unmöglich. Nicht nur Kinder sind dann unwillkürlich versucht, mit der bloßen Fingerspitze etwas zu kritzeln, bevor die vergänglichen Linien gelöscht und der Dampf ganz abgewischt wird, um klaren Durchblick zu gewinnen. Man fragt sich unwillkürlich, wer der Urheber der Smileys sein mag.
Alles in allem verknüpfen sich in diesen Darstellungen Transparenz und Mehrschichtigkeit mit nüchtern registrierendem Blick und scheinbarer Unbekümmertheit. Flüchtige, gestische Elemente, die man in einer vorderen Bildebene lokalisiert, intervenieren mit weichen und quasi entmaterialisierten Sujets, die einer anderen Schicht angehören. Die Spuren einer Handlung werden festgehalten und mit einer Situation konfrontiert, die wie traumverloren erscheint. Unser Bewusstsein registriert verschiedenen Zeitebenen und Tiefenschichten. Eine räumliche Wirkung stellt sich indessen nicht ein, da die geschilderten Dinge kaum Volumen haben und sich keiner perspektivischen Ordnung fügen. Das hat zur Folge, dass alles auf diesen Bildern immateriell, ungreifbar und wie entrückt anmutet.
Wie schon bei den Werken des Projekts „Haus am Stadtrand“ sind hin und wieder Interieurs von Haus Esters geschildert ( z.B. 2011/02). Zu ihnen gesellen sich Innenansichten von Haus Lange (z.B. 2010/03). Grundlage sind jeweils Fotos aus der Zeit um 1930.
Bei den Bauten handelt sich um Werke von Mies van der Rohe. Die Inkunabeln der modernen Architektur boten nicht nur komfortable Wohnungen, sondern waren auch so geschnitten, dass in ihnen Kunstwerke gut zur Wirkung kommen konnten. Die museale Nutzung beider Villen macht das bis heute anschaulich. Hermann Lange beispielsweise verfügte über mehr als 300 Werke moderner Kunst, darunter Bilder von Braque, Picasso, Léger, Macke, Marc, Kandinsky, Kirchner, Nolde, Schmidt-Rottluff, Dix, Beckmann, Chagall, Miro u.a., aber auch Skulpturen von Lehmbruck, Maillol oder Sintenis. Die Fotografien, auf denen einige dieser Werke zu identifizieren sind, bildeten offensichtlich den Ausgangspunkt für eine Reihe von Werken der Künstlerin. Es versteht sich von selbst, dass das historische Material jeweils einer tiefgreifenden Transformation unterworfen wurde. Dabei handelt es sich gleichsam um einen Aneignungsprozess, d.h. um eine bildnerische Reflexion über etwas Vergangenes, weitgehend Verlorenes (die Sammlungen) bzw. teilweise noch Gegenwärtiges (die Häuser). Es sind gewissermaßen sublimierte Evokationen des Verschwundenen, das sich in das einnistet, was von der ursprünglichen Architektur noch vorhanden ist. Man blickt auf so etwas wie Erinnerungsbilder voller Eintrübungen, Leerstellen und Inkohärenzen, die sich als ästhetische Erscheinungen manifestieren.2.
Wie nachhaltig Kneffel das Krefelder Projekt beschäftigt hat, lässt sich auch daran ablesen, dass im Frühjahr 2014 ein weiteres großes, querformatiges Gemälde entstand. Dargestellt ist das Interieur von Haus Lange, das zwischen 1928 und 1930 nach Plänen von Ludwig Mies van der Rohe errichtet wurde. Gezeigt wird die Eingangshalle des Gebäudes, und man erkennt verschiedene Kunstwerke. Über einem niedrigen Bücherregal rechts August Mackes „Große Promenade, Leute im Park“ von 1914, daneben dann auf einem Sockel Wilhelm Lehmbruchs „Torso eines jungen Weibes“ von 1911. Im Nebenraum der „Liegende, weiblicher Akt“ ebenfalls von Lehmbruck. Auf der mit Holz verkleideten Wand dann weiter links eines Hauptwerke Ernst Ludwig Kirchners. Es handelt sich um den „Potsdamer Platz“, entstanden 1914 und vermutlich seit 1929 /30 im Besitz von Hermann Lange (1874-1942), dem Direktor der Vereinigten Seidenwebereien AG Hermann Lange. Das große Gemälde war bald danach der Nationalgalerie in Berlin als Leihgabe überlassen worden und für einige Zeit im Kronprinzen-Palais ausgestellt, wurde jedoch angesichts nationalsozialistischen Polemik gegen die Moderne bereits im Spätsommer 1932 bei einer Neuordnung der Sammlung abgehängt und einige Zeit später dem Leihgeber zurückgegeben.
Das Werk blieb im Besitz der Familie, überdauerte die Wirren des Krieges und konnte im Jahre 2000 von der Berliner Nationalgalerie erworben werden. Ein spektakulärer Ankauf, der nicht zuletzt durch den hohen Preis für Aufsehen sorgte.Das offene Interieur mit den ineinander übergehenden Räumen, denen ein nobler Parkettboden und verschieden große Perserteppiche eine wohnliche Atmosphäre verleihen, gibt insgesamt einen sehr kleinen Teil der bedeutenden Kunstsammlung Hermann Langes wieder. Um die Übersetzung eines fotografischen Dokuments in ein Wand füllendes Gemälde ist es der Künstlerin freilich nicht primär gegangen. Einige Besonderheiten unterlaufen die Vermutung, es handele sich hier um die historische Vergegenwärtigung eines kultivierten Ambientes, wie man es gegen Ende der Weimarer Republik bei einem wohlhabenden und der Moderne gegenüber aufgeschlossenen Unternehmer erwarten konnte. Anders als auf dem historischen Foto befindet sich allerdings am linken Rand des Gemäldes offenbar der „Mädchentorso, sich umwendend“ von 1914. Der schräge Blick auf die Rückseite der Plastik von Lehmbruck und ihre Positionierung wirken befremdlich und legen den Schluss nahe, dass die Skulptur damals in der Wohnung nicht so gestanden haben kann.
Dass es nicht um historische Wahrheit geht, lässt sich auch an anderen Sujets beobachten. Das gilt sowohl für die junge Frau rechts vorn, die mit Eimern und Putzlappen am Boden hockt und ihre Arbeit unterbrochen hat, als auch für die ältere Frau, die ihre Wasserkübel gerade abgestellt hat. Beide beobachten eine Gestalt, die auf dem glatten Boden ausgeglitten und der Länge nach hingefallen ist. Während die Kunstwerke Kokotten und Freier im Zentrum von Berlin (Kirchner), einen Familienausflug mit Kindern im Park (Macke) bzw. stehende und liegende weibliche Akte (Lehmbruck) zeigen, vergegenwärtigt die eingeblendete Szene Hausarbeit und ein in diesem Zusammenhang völlig unmotiviertes Malheur. Man fragt sich unwillkürlich, was den Mann mit der Halbglatze motiviert haben mag, aus der Villa zu fliehen und dabei ins Straucheln zu geraten. Aber damit nicht genug. In der Mitte der Darstellung bemerkt man eine dritte Ebene, die man zunächst übersehen hatte. Rechts und links vom Zentrum befinden sich nämlich große Abdrücke von Händen, die den Eindruck erwecken, als würde man die Szene im Innern von Haus Lange durch eine beschlagenen Glasscheibe mit vielen Lichtreflexen beobachten. Der unsichtbare bzw. abwesende Zeuge, dessen Position man als Betrachter einnimmt, befindet sich gegenüber der Skulptur auf dem Sockel. Die Malerin simuliert allerdings keinen Blick durch ein Fenster ins Innere, sondern lässt durch die Art der Inszenierung und den Wandel der Perspektive die Inkongruenz der verschiedenen Sphären deutlich werden. Auch Kunstwerke und Staffage stimmen nicht zueinander, was sich am Wechsel des Maßstabs nachvollziehen lässt. Die Halle in Haus Lange wirkt dadurch groß und gewinnt geradezu museale Dimensionen.
Das Gemälde ist demnach eine Synthese von Motiven, die heterogenen Quellen entstammen. So findet sich beispielsweise die Frau mit den Eimern rechts am Rand auf einem anderen Bild Kneffels wieder, das seinerseits auf einem Foto eines Drehorts für Hitchcocks Krimi „Torn Curtain“ beruht (2013/16). Der 1966 entstandene Film bildet den Ausgangspunkt für einige Kompositionen der Malerin, auf denen jeweils mehrere Putzfrauen damit beschäftigt sind, den ohnehin schon glatten Boden feucht aufzuwischen, ein deutliches Zeichen dafür, dass sich der Held des Streifens, der Spion Michael Armstrong, dargestellt von Paul Newman, bei seiner Mission in der DDR in eine riskante Situation begibt, in der man ausrutschen, zu Fall kommen und sich den Hals brechen kann. Auch in diesen Werken operiert die Malerin mit Verfremdungseffekten, d.h. mit fiktiv vorgeblendeten Scheiben, auf denen große Wassertropfen abperlen, bzw. Reflexlichter und auch Spuren von Händen zu sehen sind. Der Film hebt darauf ab, eine Illusion zu erzeugen. Das Foto vom Set hält fest, wie man solche Fiktion generiert. Scheinhaftigkeit wird insofern suggeriert, als das Glas mit seinen wässrigen Laufspuren und Spiegeleffekten nicht nur ein distanzierendes Moment verkörpert, sondern auch den Realitätsgehalt des Fotos konterkariert bzw. das auf ihm festgehaltene Geschehen zu einer Phantasmagorie macht. Nahsichtig und scharf sind die Wassertropfen festgehalten. Sie vergrößern und verzerren. Distanziert und verschwommen wirken Ambiente und Figuren. Der Blick ins Haus Lange und die Reproduktion eines Sets von Hitchcocks spätem Film, in dem sich die ideologischen Diskrepanzen des Kalten Krieges sehr banal und klischeehaft ausnehmen, rufen zwar den Eindruck historischer Authentizität hervor. Die Kombination des Faktischen mit nicht zugehörigen Elementen unterläuft indessen jede Glaubwürdigkeit und macht alles zur Fiktion.
Die Vermutung, dass sich Wirklichkeit und Fantasie vermischen, erhärtet sich, wenn sich der Bildausschnitt verengt und sich der motivische Zusammenhalt auflöst. Das lässt sich an einem Bild nachvollziehen, das in diesen Kontext gehört. Das in wässerigen und blauen Tönen gehaltene Geschehen (2012/8) ist in Vogelperspektive dargestellt. Links sind neben einigen Polstermöbeln zwei am Boden kniende Frauen beim Schrubben des Bodens zu sehen, während am oberen Bildrand nur Hände mit Bürsten oder ein dunkler Rock oder die ausschreitenden Hosenbeine auszumachen sind. Das Flirren des Bodens, die Glanzlichter, die Modulation von Pastelltönen im Wechsel mit Weiß und Hellgrau kontrastieren mit deutlich konturierten Tropfen und Wasserflecken, die sich vor der eigentlichen Bildebene zu befinden scheinen. Dabei ist nicht auszumachen, ob das Glas als senkrecht stehend oder als waagerecht liegend vorzustellen ist. Für die vertikale Position scheinen die Laufspuren des Wassers von oben nach unten zu sprechen, für die horizontale hingegen die Vogelperspektive und die Statik der Tropfen. In toto ein malerisches Exerzitium auf hohem Niveau, das die entleerte Mitte über alle Geschehnisse am Rand triumphieren lässt.
3.
Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang ein anderes Gemälde, dass sich weniger direkt auf Mies van der Rohe und die damaligen Bewohner seiner Krefelder Häuser bezieht, als auf das „Krefeld Project“, das der amerikanische Maler Eric Fischl 2002 realisieren konnte. Auch Fischl bezog sich seinerseits zwar auf Haus Esters, stattete es jedoch mit zeitgenössischen, der Moderne nachempfundenen Möbeln aus, engagierte zwei Schauspieler und ließ sie mehrere Tage ein Paar spielen. Aus den vielen Fotos, die Fischl von dieser Performance machte, entwickelte er dann am Computer die Kompositionen seiner Darstellungen.
Auf eine dieser Arbeiten Fischls bezieht sich Kneffel (2011/4). Auf ihrem Gemälde sehen wir durch eine Glasscheibe mit großen Spuren von Kondenswasser zwei junge Mädchen, wie sie sich dem Werk Fischls zuwenden. Sie betrachten es im ehemaligen Esszimmer der Familie Esters. Auf dem Bild im Bild erkennen wir links den Mann mit offenem Hemd, wie er ein Glas Wasser trinkt, und rechts seine Partnerin, auch sie halb entkleidet. Im Hintergrund dann berühmte Werke von Gerhard Richter, Andy Warhol und Bruce Nauman. Die rechte Seite ihrer Darstellung schließt Kneffel mit einem Durchblick auf die Terrasse. Dort hantiert jemand mit einem Besen und scheint Laub zusammenzufegen. Es ist ein Mitarbeiter des Museums, doch stammt die Vorlage aus anderen Zusammenhängen.Erneut überlagern und durchdringen sich verschiedene Bildebenen und Motivfelder. Das Geschehen kombiniert Momente, die einen Zeitraum von ca. 80 Jahren umfassen. Es ist nicht nur ein ästhetisches Konstrukt, sondern auch eine Reflexion über die Geschichte von Architektur (Mies van der Rohe) und Malerei (Eric Fischl), über soziales Verhalten (das Paar bei Fischl, die Betrachterinnen bei Kneffel), über Arbeit (Ausfegen) und Muße (Ausstellungsbesuch). Und letztlich wird auch der institutionelle Rahmen reflektiert. Denn was früher Wohnort war, dient jetzt als Museum mit eigenem Personal. Hinzukommen weitere Gegensätze: spiegeln und reflektieren, Schärfe und Unschärfe, Transparenz und Opazität, Schrift und Zeichen ohne spezifische Bedeutung, Bild im Bild im Bild (Richters Gemälde reproduziert von Fischl, dessen Gemälde dann wiederum Kneffel zitiert). Wie ein ironischer Kommentar wirkt in diesem Geflecht der Referenzen die 1967 entstandene Neonarbeit von Bruce Nauman, die Fischl und - ihm folgend - Kneffel wiedergeben: „The true artist helps the world by revealing mystic truths.“ In ihrem vielschichtigen Gemälde geht es nicht darum, mystische Wahrheiten aufzudecken, sondern Vergangenes und Gegenwärtiges zu verschmelzen. Es geht um das Verweben von Aneignung und Verfremdung, um die Verquickung von Annäherung und Distanzierung, um die Verbindung von Spontaneität und Reflexion. Das alles nicht als theoretisches Konstrukt, sondern als subtiler malerischer Prozess.
Ist eine Darstellung mit dieser Programmatik nicht überfrachtet und stiftet die Komplexität nicht vor allem Verwirrung? Kann das Gemälde formal einlösen, was es motivisch vorgibt und inhaltlich suggeriert? Letztlich sind es abstrakte Fragen, die sich angesichts der ästhetischen Präsenz des Werks nicht stellen. Kneffel gelingt es nämlich überzeugend, die verschiedenen Ebenen so miteinander zu verschränken, dass sich eine homogene Bildwirkung einstellt. Dabei ist es nicht zuletzt das von blauen Tönen beherrschte Kolorit, das ganz wesentlich dazu beträgt, alles Disparate auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen. Es ist diese synthetische Kraft, die der Darstellung Brillanz und Tiefe verleiht .
4.
Bei allem Befremdlichen des Wiedererkennens von verarbeiteten Dokumenten und Kunstwerken bzw. Phänomenen der Wirklichkeit gerinnt in den Gemälden das vage Erinnerte, undeutlich Erfahrene und unterschwellig Geahnte zur Prägnanz einer sinnlichen Erscheinung. Die Worte jedoch, die das erfassen sollten, scheinen sich gegenüber dem Sichtbaren ständig in einem Defizit zu befinden, so dass man sich unmittelbar an Michel Foucaults Bemerkungen erinnern kann. „Sprache und Malerei“, so heißt bei ihm 1966, „verhalten sich zueinander irreduzibel: vergeblich spricht man das aus, was man sieht. Das, was man sieht, liegt nie in dem, was man sagt; und vergeblich zeigt man durch Bilder, Metaphern, Vergleiche das, was man zu sagen im Begriff ist.“ Eine Möglichkeit, diese Aporie aufzulösen, sah Foucault vor allem darin, die Beziehungen der Sprache und des Sichtbaren möglichst offen zu halten und nicht vorschnell Begriffe und Eigennamen ins Feld zu führen. „Durch Vermittlung der grauen, anonymen, stets peinlich genauen und wiederholenden, weil zu breiten Sprache wird die Malerei vielleicht ganz allmählich ihre Helligkeiten erleuchten.“
Inwieweit man auch die „Helligkeiten“ von Kneffels Malerei (und das heißt letztlich die durch ihrer Werke vermittelte Bedeutung) durch eine möglichst detaillierte Beschreibung aufleuchten lassen bzw. aufklären kann, muss offen bleiben. Foucaults exegetisches Verfahren, das er an einem Gemälde des 17. Jahrhunderts, auf das zurückzukommen ist, äußerst penibel exemplifiziert hat, ließe sich auch auf Kneffels Werke anwenden, nur ist hier nicht der Ort, das mit der gebotenen Genauigkeit und Ausführlichkeit zu tun. Unsere Beschreibung wird zwangläufig kursorisch bleiben und kann nur annähernd transparent machen, worum es in den Werken geht, d.h. welche Verfahren angewendet werden und welche Motivationen sich in ihnen manifestieren. Immerhin vermag die Vergegenwärtigung der Sujets und ihrer Erscheinungsweise in den Gemälden vielleicht die Grundlage liefern, „dass unsere auf Kunstwerke gerichtete Imagination ein Mitgehen mit ihren Imaginationen ist.“2010 schuf Karin Kneffel ein großes, nahezu quadratisches Gemälde (2010/02), das nicht nur sehr eindrucksvoll ist, sondern auch Einblick in eine Arbeitsweise erlaubt, die in ihrer Komplexität über das hinaus geht, was bisher zu beobachten war. Im Vordergrund wird die Darstellung von einer Menschengruppe beherrscht, die dem Betrachter den Rücken zukehrt bzw. sich nach links hin wendet. Im Mittelgrund schließen sich weitere Figuren in altertümlichen Gewändern an, während der Hintergrund von rechteckigen Elementen besetzt ist, die unschwer als gerahmte Gemälde zu identifizieren sind. Zwei grelle Lichter wollen ebenso wenig in dieses Ensemble passen wie das Smiley, das gebogene, halb transparente Linien und zwei dunkle Flecken bilden. Während die verhalten leuchtenden Formen ortlos zu sein scheinen, lokalisiert man das grinsende Gespenst mit seinen beiden ausgestreckten Armen auf einer Ebene noch vor den versammelten Personen. Bereits die wenigen Hinweise machen deutlich, dass das von silbrigen und nuancenreichen Grautönen beherrschte Bild nicht so homogen ist, wie es auf den ersten Blick erscheint. Die räumlich gestaffelten Zonen vergegenwärtigen nicht nur unterschiedliche Zeiten, sondern auch jeweils andere soziale Verhältnisse und widersprüchliche Kulturtechniken.
Das Thema erschließt sich, wenn wir den Mittelgrund genauer betrachten. Reproduziert ist hier nämlich eines der berühmtesten Werke der Kunstgeschichte. Wie unschwer zu erkennen ist, handelt es sich um „Las Meninas“, das epochale, 1656 entstandene Hauptwerk von Velázquez. Der Maler ist rechts zu erkennen, wie er hinter der Rückseite eines riesigen Gemäldes hervortritt, an dem er gerade arbeitet, um einen prüfenden Blick auf das zu werfen, was er porträtiert. Bei der Hauptfigur der barocken Darstellung handelt es sich um die Infantin Margarita. Von ihr sehen wir im Zentrum des Bildes allerdings nur die hell beleuchtete Stirn, eingerahmt von blonden Haaren mit roter Schleife. Auch von den beiden Hofdamen links und rechts neben ihr sind entweder nur das Profil oder Kopf und Oberkörper auszumachen. Links am Rande, von dem goldenen Lichtkreis überstrahlt, die Dienerin der Infantin im Gespräch mit einer Ehrenwache, davor dann unverkennbar das entstellte Gesicht der Zwergin Bárbola, während der Chef der königlichen Teppichwirkerei im hell erleuchteten Türrahmen das Geschehen aus der Distanz betrachtet. Was Velázquez malt und was auch die Infantin und ihre Hofdamen betrachten, deutet sich vielleicht im dunkel gerahmten Spiegel rechts neben der Tür im Hintergrund an. Man hat vermutet, dass es sich um das Königspaar handelt, das vom Maler porträtiert wird. Die Besucher, die sich im Prado vor „Las Meninas“ eingefunden haben, lauschen den Erläuterungen der Führerin ganz links, schauen aber das Gemälde selbst nicht an.
Kneffels Komposition ist aber nicht nur als Hommage an Velázquez zu verstehen, sondern auch als Rekurs auf anspruchsvolle Fotografien, die diese an sich alltägliche Situation thematisieren. „Making Time“ war beispielsweise der Titel einer Ausstellung und einer Publikation, die eine Auswahl jener Bilder versammelte, die Thomas Struth 2005 im Prado aufgenommen hatte. Mit ihnen setzte er die Reihe seiner Museumsfotografien fort, dem vielleicht bekanntesten Komplex seines Oeuvres.
Die Anzahl seiner großformatigen Aufnahmen von Besuchern vor „Las Meninas“ verrät die besondere Bedeutung, die Struth diesem Motiv beimaß.Die doppelte Reverenz des Gemäldes von Kneffel gilt der Malerei eines großen Alten Meisters und einer meisterlichen Fotografie eines Zeitgenossen. Doch wird diese Würdigung nicht direkt zum Ausdruck gebracht. Sie wirkt vielmehr zwiespältig und gebrochen und wirft eine Reihe von Fragen auf. Bei der Betrachtung von Kneffels Bild fällt ins Gewicht, dass das barocke Gemälde seitenverkehrt wiedergegeben ist, als würde man es in einem Spiegel betrachten.
Das Smiley muss man sich daher auf der Oberfläche der reflektierenden Scheibe vorstellen. Und bei den starken Lichtern in Kneffels Gemälde dürfte es sich ähnlich verhalten. Offenbar löst sich der golden konturierte Kreis auf dem Spiegel an den Rändern auf, wenn die reflektierten Strahlen das Gemälde treffen und diffus werden. Kneffels Darstellung lässt sich als simulierte Versuchsanordnung verstehen, der es nicht auf Exaktheit ankommt, sondern die sowohl auf einen Verfremdungseffekt zielt als auch auf die doppelte Hommage, in die sich allerdings auch wenig Skepsis und Distanz zu mischen scheinen.Wie ist das zu verstehen? Bei „Las Meninas“ im Prado betrachtet der Maler des 17. Jahrhunderts, der ja aus dem Gemälde blickt, den Raum, in dem wir uns als Betrachter befinden. Nach Foucault, der sich mit dem Gemälde intensiv auseinander gesetzt hat, durchläuft quasi von den Augen des Malers eine virtuelle Linie das Gemälde und erreicht diesseits seiner Oberfläche jenen Ort, von dem aus wir den Maler sehen, der uns beobachtet. Verhandelt wird somit ein einfacher Topos, der auf Reziprozität basiert.
Fiktiv bleibt dabei selbstverständlich, dass der gemalte Blick des Künstlers uns als Betrachter erreicht. Schon immer war vor uns das Modell anwesend, dem seine Aufmerksamkeit gilt. Der Spiegel im Hintergrund des barocken Gemäldes gibt nämlich zu erkennen, dass es vermutlich das Königspaar ist, das für Velazquez Modell steht. Obwohl katoptrisch nicht nachvollziehbar, würde demnach die gespannte Aufmerksamkeit des Malers nicht uns, sondern selbstverständlich Philip IV. und Maria Anna von Österreich gelten. Auf Kneffels Gemälde blickt er, so lässt sich folgern, nicht auf die Besucher vor seinem Werk, sondern in einen Spiegel. In ihm würde er nicht nur sich selbst, das Atelier und sein eigenes Werk erblicken, sondern auch die Menschengruppe, die sich vor seinem Meisterwerk eingefunden hat.Nun weiß man, dass der vertikale Spiegel keineswegs die Seiten verkehrt. Der Spiegel reflektiert rechts und links genau dort, wo rechts und links sind. Er liefert ein absolutes Duplikat des Reizfeldes.
Es ist der Betrachter, der sich qua Identifikation vorstellt, er wäre die Gestalt im Spiegel und der dann, während er sich mustert, plötzlich entdeckt, dass er die Uhr am rechten Handgelenk trägt, wo er sie aber nur hätte, wäre er derjenige, der sich im Spiegel befindet.Kneffels Gemälde hebt aber nicht auf die Divergenz zwischen Wahrnehmung und Verstandesurteil ab, d.h. die Künstlerin simuliert nicht, was der barocke Künstler, wäre die Konstellation real, wahrgenommen hätte, sondern sie malt das Spiegelbild eines Fotos, das zweifellos vor nicht allzu langer Zeit aufgenommen wurde, wie sich an Kleidung und Frisuren der Menschen ablesen lässt, die sich vor dem Werk von Velazquez eingefunden haben, es jedoch – zumindest in diesem festgehaltenen Moment – keines Blickes würdigen. Damit keine Zweifel am irrealen Charakter der Darstellung aufkommen, wird dem Ganzen eine freche Physiognomie vorgeblendet, eine gigantisches Emoticon, dessen surreale Wirkung durch die unmotivierten Lichtscheiben, die durch die Darstellung geistern, zusätzlich akzentuiert wird.
Das programmatisches Bild Kneffels ist einerseits als anschaulicher Traktat über das Verhältnis von Malerei und Fotografie zu verstehen. Zudem werden Vergangenheit und Gegenwart miteinander in Beziehung gesetzt. Die Hochkunst sieht sich mit einem Graffito konfrontiert. Und wir registrieren, wie eines der herausragenden Zeugnisse der Kunst zwar ein heutiges Massenpublikum anzieht, von diesem aber kaum wahrgenommen wird. Damit wird das Problem der Rezeption von Kunst thematisiert. Bezeichnenderweise befindet sich das Publikum zwischen der Fratze mit den toten Augen und einem Meisterwerk der spanischen Malerei, d.h. zwischen High and Low. So gesehen lässt sich das Gemälde Kneffels als ein Protokoll verstehen, in dem etwas über die Befindlichkeiten der visuellen Kultur unserer Zeit anschaulich gemacht wird. Dabei handelt es sich um ein Protokoll, dass alles Konsekutive ins Simultane überführt bzw. zwischen Fakten und Fiktionen oszilliert.
Was wir vor uns haben, ist ein visuelles Statement, das verständlich macht, worum es Kneffel in ihrer Malerei geht. Gedanklicher Zugriff, ästhetisches Umsetzungsvermögen und malerische Kompetenz ergänzen sich auf überzeugende Weise und lassen den Ernst ihres Engagements erkennen. Subjektive Befindlichkeiten spielen in diesem Oeuvre ebenso wenig eine Rolle wie die Attitüde des anything goes. Vordergründig beziehen sich die Gemälde auf eine mehr oder weniger vertraute Realität, d.h. auf ein bedeutendes Kunstwerk und sein Publikum. Bei näherer Betrachtung jedoch stimmen die Sujets nur partiell zueinander, geben sich teilweise als illusionär zu erkennen und wollen sich nicht in ein sinnfälliges Ganzes integrieren. Das verdankt sich dem ambivalenten Aggregatzustand vieler Dinge, deren Erscheinungsweise oft inkonsistent anmutet. Bewusst unklar gelassen sind die räumliche Lokalisierung der Motive und ihre zeitliche Bezüge. Martin Hentschel spricht zutreffend von der „Osmose zwischen Räumen und Zeiten“.
Kneffels Bilder sind absolut gegenwärtig, verweisen aber häufig auf Fakten oder Ereignisse der Vergangenheit. So täuscht der anschauliche Charakter ihrer Werke durch die faszinierende Verquickung des Landläufigen mit dem Verblüffenden, des Unmittelbaren mit dem Ungreifbaren zunächst darüber hinweg, dass sich in den handwerklich so perfekten Darstellungen etwas zutiefst Beunruhigendes, Rätselhaftes und gelegentlich auch Verstörendes verkörpert. Das diffus schon immer Vorhandene, Vor- und Unterbewußte tritt zusammen zur Erscheinung eines Bildes und wird damit gleichsam „greifbar“, was etymologisch auf „begreifbar“ deutet. Oder, was dasselbe ist: die unbegriffene Erfahrung wird aufgehellt, indem sie sich zu einer Erfahrung zweiter Ordnung kondensiert; d.h. die Erfahrung wird erfahrbar.Die hier etwas ausführlicher beschriebene Darstellung kann man durchaus als Schlüsselbild verstehen, das auf frühere Werke zurückweist und vorweg nimmt, was Kneffel in der Nachfolge dieses Gemäldes geschaffen hat. Es sind Bilder, die manchmal weniger vielschichtig sind, in denen sich insgesamt aber eine Haltung verkörpert, die Anschaulichkeit mit Reflexion und thematische Konzentration mit koloristischer Sensibilität verknüpft. In dem allen manifestiert sich eine künstlerische Einstellung, die Ungleichzeitiges verfügbar macht und dennoch nichts mit der heute landläufigen Beliebigkeit und Indifferenz zu tun hat.
5.
Der anschauliche Charakter aller Gemälde der letzten Jahre wird durch die mediale Brechung bestimmt. Kneffel spielt mit ihrer raffinierten Ineinanderblendung verschiedener Blickführungen auf die topische Definition des Gemäldes an, das man nach L.B. Alberti als einen Blick durch einen rechteckigen Fensterrahmen zu verstehen hat, wobei die Landschaft oder jedes andere Sujet sich perspektivisch exakt auf der vom Rahmen begrenzten Fläche abbildet. Man fragt sich unwillkürlich, ob die Künstlerin mit der so ostentativen Betonung der Flächigkeit ihrer Darstellungen nicht auf diese Konzeption zurückgreift, die die europäische Malerei für Jahrhunderte geprägt hat. Tut sie es, obwohl die Moderne eine andere Definition des Bildes propagiert hat?
Erinnern wir uns. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts ist ein Bild etwa für Maurice Denis schließlich nichts anderes mehr als eine ebene Fläche, die mit ausgewählten Farben in einer bestimmten Ordnung bedeckt ist. Was das Gemälde zum Ausdruck bringt, verdankt sich ihm selbst, d.h. seiner Machart und seinem Stil, und nicht etwa dem wiedergegebenen Sujet.
Man hat darin ein Plädoyer für die Autonomie der Darstellungsmittel zu sehen, wie sie sich ab dem zweiten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts in expressionistischen, abstrakten oder monochromen Gemälden manifestiert. Kneffel ist nicht primär an der Eigenwertigkeit von Farben, Formen und Techniken interessiert. Ihre dezidierte Aufmerksamkeit gilt den Motiven und ihrer Beziehung zueinander. Und sie praktiziert eine Malweise, die alle handwerklichen Spuren in einer makellosen Oberfläche untergehen lässt, den individuellen Duktus einer Pinselschrift also unsichtbar macht. Der Autonomie der bildnerischen Mittel wird damit in ihrem Oeuvre eine Absage erteilt. Aber der Rekurs auf Alberti ist ebenso ausgeschlossen. Kneffel arbeitet nicht mit einer Fläche, sondern mit verschiedenen transparenten, sich überlagernden Folien als würde sie mehrere Projektionen über- und ineinander blenden. Es ist offensichtlich eine fotografische Technik, die bei ihrer Art zu malen Pate gestanden hat.Kneffels Malerei bemächtigt sich teils dokumentarischer, teils selbst gemachter Fotos. Durch die Verschmelzung verschiedenen Ebenen lässt sich ein betörender Schein generieren, der gleichzeitig schön und abgründig, unspektakulär und bedrohlich wirkt, das heißt Gegensätzliches miteinander verschmilzt. Mit solcher Feststellung könnte man sich zufrieden geben, wenn sich nicht die Frage aufdrängen würde, welchen Intentionen sich diese mehrschichtige Amalgamierung verdankt und worauf die Gemälde Karin Kneffels letztlich abheben. Was sie darstellen, ist weder beliebig noch zufällig. Soll also die Kombination verschiedener Perspektiven und heterogener Gegenstandbereiche letztlich vor allem darauf verweisen, dass Evidenzen auch täuschen können, dass unsere von Fotos geprägte Realitätswahrnehmung auf Illusionen beruht? Geht es ihr womöglich darum zu zeigen, dass das Offensichtliche, wenn nicht ungreifbar, so doch vielschichtig ist? Das alles versteht sich von selbst und würde kaum einen derart komplexen Gestaltungsprozess rechtfertigen. Vielleicht geht es nicht nur um inhärente Botschaften, die an Motive und die Modi ihrer Präsenz gekoppelt sind, sondern vor allem um die Vergegenwärtigung einer ästhetischen Erfahrung, die so nur das Medium der Malerei bieten kann.
Dass es sich so verhält, wird vor allem dann deutlich, wenn man sich vergegenwärtigt, zu welchen Resultaten eine Fotografie mit künstlerischem Anspruch kommt, die mit Spiegeleffekten operiert und mehrere Wahrnehmungsebenen ineinander blendet. Der Vergleich mit Arbeiten von Sabine Hornig, einer bekannten zeitgenössischen Fotokünstlerin, erweist sich dabei als erhellend. Das zentrale Motiv ihrer großformatigen, meist analog geschaffenen Arbeiten ist häufig ein großes Schaufenster, durch das man teilweise ins Innere blicken kann. Zu sehen ist außerdem, was sich im Glas spiegelt. Der so erzeugte kaleidoskopische Effekt lässt nicht mehr erkennen, was schlichtes Abbild ist und was sich der Katoptrik verdankt. Die verwirrend vielschichtigen Fotos Hornigs lassen sich daher als „Palimpsest von Blickführungen“ verstehen. Dabei wechseln verschiedene Zeitschichten miteinander und erzeugen gleichsam ein raumzeitliches Kontinuum.
Das Verfahren hat in der Geschichte der Fotografie eine lange Vorgeschichte, die von Eugène Atget bis zu Dan Graham, Lee Friedlander und anderen reicht. Während Hornig dabei bewusst oder unbewusst gelegentlich Kompositionsprinzipien der Malerei aufgreift und sich so Analogien vor allem zu holländischen Stilllebenmalerei des 17. Jahrhunderts beobachten lassen, sind Kneffels Referenzen sehr viel breiter angelegt. Bei ihr spielt der banale Schnappschuss ebenso eine Rolle wie Stills aus berühmten Filmen, vor allem aber, und darin hat ihr Werk besonderes Gewicht, sind ihre Gemälde immer wieder mit vielschichtigen Reminiszenzen aus Geschichte und Kultur durchsetzt.So ähnlich die Genese der Bilder von Hornig und Kneffel auf den ersten Blick auch erscheint, das ältere Medium entfaltet eine ganz andere ästhetische Präsenz und Unmittelbarkeit und erlaubt einen ganz anderen Grad an Komplexität. Man mag sich in diesem Zusammenhang an eine Äußerung Gerhard Richters erinnern, bei dem die Malerin einige Zeit studiert hat. „Die Fotografie“, so Richter, „hat fast keine Realität, ist fast nur Bild. Und die Malerei hat immer Realität, die Farbe kann man anfassen, sie hat Präsenz; sie ergibt aber immer ein Bild – egal, wie gut oder schlecht.“
Gerade die hier nur skizzierte Gegenüberstellung von Arbeiten Kneffels mit denen Hornigs, die selbstverständlich keine Wertung beinhaltet, macht deutlich, was Richter mit seinem zunächst ja kryptisch erscheinen Statement zum Ausdruck bringen wollte. Die verglasten Fotografien haben durchgängig eine kühle, fast aseptische Ausstrahlung, während die pure Materialität einer bemalten Leinwand auch dann noch etwas Haptisches suggeriert, wenn der Farbauftrag wie bei Kneffel völlig makellos und homogen ist. Alles in allem manifestiert sich in der Summe ihrer Kompositionen der letzten Jahre in Bruchstücken eine Art zeitsymptomatisches Panorama, das als bildnerische Reflexion über unserer gegenwärtige Befindlichkeit verstanden werden kann. Im elektronischen Zeitalter, in dem alles verflüssigt und verfügbar ist, wird ein uraltes Medium aufgeboten, um der scheinbaren Entmaterialisierung der Gegenstandswelt und den ungeheuren Fliehkräften der Zeit etwas entgegenzusetzen.
An Kneffels komplexen Gemälden lässt sich das nachvollziehen. Wir haben es nicht mit Bilderrätseln zu tun, die den Betrachter verleiten, sich auf die Suche nach Referenzen zu begeben. Es ist die synthetische Kraft, die Heterogenes zusammenzieht und so verknüpft, dass sich in den Gemälden eine Konfiguration von Sinn ergibt. Der kreative Prozess basiert teils auf Intuition, teils auf konzeptuellen Überlegungen, schließt aber offensichtlich den Zufall weitgehend aus.
Rekapituliert man die Produktion der letzten Jahre, dann wird deutlich, dass die frappierende Präsenz der Gemälde von Karin Kneffel, ihre große Suggestionskraft und ihre nachhaltige Wirkung das Ergebnis eines langen Wegs ist, den die Malerin über etliche Jahre mit großer Konsequenz verfolgt hat, ohne dabei vermutlich immer zu wissen, wohin sie die verschiedenen Etappen ihres Oeuvres führen würden. Die Werke der letzten Zeit zeigen sie auf dem Höhepunkt ihre Kunst, ohne damit die früher entstandenen Arbeiten abwerten oder sie als Vorstufen der jetzigen Produktion betrachten zu wollen.
Das seit Jahrzehnten immer neu erörterte Verhältnis von Fotografie und Malerei erfährt in diesem und anderen Bildern der Künstlerin eine ungewöhnliche Zuspitzung. Je länger man die Leinwand aus der Ferne betrachtet, desto mehr verstärkt sich der Eindruck, auf die fotografische Vergrößerung einer gemalten Darstellung zu blicken. Nähert man sich schließlich dem Werk, löst sich dieser Eindruck auf und man beginnt zu verstehen, dass hier zwar die Malerei die Fotografie nachahmt und mit ihr konkurriert, die vorgängige Fotografie aber selbst schon auf ihre malerische Transformation hin angelegt wurde. Solche Verschränkung ist nur möglich, weil letzten Endes visuell nicht zu separieren ist, was in unserer Beschreibung auseinander gehalten wurde. Unsere Erfahrung unterscheidet die Glasscheibe vom Interieur. Dass solche Trennung nicht zwangsläufig gegeben ist, demonstriert das Gemälde von Karin Kneffel und stürzt den aufmerksamen Betrachter in eine Fülle von Aporien und Ambivalenzen. Was die Malerin zur Erscheinung gebracht hat, lässt sich nicht auseinander dividieren. Das, was im Kunstwerk erscheint, ist der ästhetischen Erfahrung letztlich verborgen. So gesehen ist die Wahrheit des Kunstwerks, die sich im aufblitzenden Moment der ästhetischen Erfahrung zeigt, als konkrete und gegenwärtige zugleich ungreifbar.
Diese Unabschließbarkeit der ästhetischen Erfahrung reflektiert Kneffel in ihren Werken, und das schlägt sich in der Heteronomie der Sujets und ihrer Präsentationsweise nieder.6.
Wenden wir uns einem anderen Beispiel zu (2012 /04). Wieder handelt es sich um stattliches Format. Auch diese ganz auf zarte Blautöne gestimmte Darstellung ist zweischichtig angelegt. Man blickt durch eine mit Feuchtigkeit beschlagene Scheibe schräge in einen großen, kubischen Innenraum, der durch zwei Wände, einen Teil der gerasterten Decke und den Fußboden definiert wird. Ausgestattet ist der Raum mit dunklen Holztischen für jeweils vier Personen, Bänken und einem Ensemble von Stühlen, deren Prototyp Mies van der Rohe 1929 entworfen hatte (Brno Stuhl). Die Möbel sind auf die Wände bezogen. Nur in der Raummitte befindet sich ein kleiner Tisch mit zwei Stühlen. Wie so oft bei Kneffel, hat jemand mit dem Finger auf der Scheibe ein Zeichen hinterlassen, in diesem Fall das Wort „hope“.
Beschlagene Scheibe, Schrift und Tropfen bzw. Rinnsale einerseits und Interieur anderseits sind als zwei Ebenen wahrnehmbar, werden jedoch zu einer verblüffenden bildnerischen Einheit verschmolzen. Dass die unterschiedlichen Sphären auch inhaltlich aufeinander Bezug nehmen, wird evident, wenn man registriert, was auf der langen Rückwand des Raums zu sehen ist. Dort befinden sich nämlich drei große Gemälde von Robert Indiana, die jeweils in Versalien das Wort „HOPE“ darstellen. Einem renommierten amerikanischen Pop Künstler wird damit Reverenz erwiesen. Zugleich werden seine bedeutungsschweren Zeichen auf das reduziert, was es an solcher Örtlichkeit nur sein können, nämlich sinnentleerte Dekoration. Es handelt sich um eine temporäre Installation im Restaurant „Four Seasons“, das sich im Seagram Building, einem New Yorker Wolkenkratzer, befindet.
Von Ludwig Mies van der Rohe entworfen und 1958 vollendet, galt der Stahlskelettbau mit vorgehängter, nichttragender Fassade an der Park Avenue für viele Jahre als Vorbild. Die Einrichtung des Restaurants, das bis heute im gesellschaftlichen Leben der Metropole eine herausragende Rolle spielt, verdankt sich in erster Linie Philip Johnson, wenn auch verschiedene Umgestaltungen kaum mehr etwas vom ursprünglichen Charakter übrig gelassen haben. Wie das Gemälde zeigt, griff Johnson für die Ausstattung ganz bewusst auf Möbelentwürfe von Mies zurück. Eine feierliche Atmosphäre vermittelt Kneffels Bild allerdings nicht. Eher glaubt man eine nüchterne, anonyme Bürolandschaft vor sich zu haben. Darauf deutet beispielsweise der Sandwichteller mit Salatblatt, Serviette und Wasserflasche hin, die auf dem kahlen Tisch vorn links zu sehen sind. Es ist vermutlich früher Morgen. Das Personal des Nobelrestaurants hat seinen Dienst noch nicht aufgenommen und begonnen, die Tische einzudecken. Ein anderes Indiz macht die Vermutung plausibel. Nicht weit von dem trostlosen Stillleben liegt im Hintergrund jemand auf einer Sitzbank. Hosen und Schuhe lassen einen Mann vermuten, der sich dort ausgestreckt hat. Die Details deuten nicht auf einen Tatort, sondern suggerieren etwas Alltägliches. Jemand ruht sich aus und wird sich vermutlich bald erheben und das Frühstück zu sich nehmen. Was bedeutet vor diesem Hintergrund das Wort „Hoffnung“. Eigentlich nichts, denn „Hope“ fungiert hier als ein leeres Zeichen, dessen Vergegenwärtigung von seiner Semantik getrennt ist und kaum mehr als eine Konfiguration von Buchstaben und Farben ist. Syntagmatische oder assoziative Beziehungen stellen sich nicht ein. Indianas Werke im „Four Seasons“, die nicht den Rang seines anderen, weltbekannten Vierbuchstaben-Bildes (LOVE) haben, wirken blass und dekorativ. Die handschriftliche Version auf der Scheibe ist im Begriff zu verlöschen und wirkt damit wie ein Zeichen schwindender Hoffnung.
Es ist diese Ambivalenz zwischen Prägnanz und Undeutlichkeit, die den anschaulichen Charakter des Gemäldes durchgängig prägt. Allerdings rufen die Bilder von Indiana zwangsläufig etwas anderes in Erinnerung. Für die Einweihung 1958 hatte Mark Rothko den Auftrag angenommen, Gemälde für das Restaurant zu schaffen, dann aber eine Kehrtwende vollzogen, da ihm seine sublimen, auf stille Betrachtung und mentale Versenkung angelegten Werke, die sich heute in der Tate Gallery befinden, in diesem unruhigen Umfeld mit großen Fenstern und Türen völlig deplatziert vorkamen.
Künstler einer anderen Generation wie James Rosenquist, Frank Stella, Richard Anuszkiewicz oder eben Robert Indiana hatten da weniger Skrupel, konnten sie sich doch in guter Gesellschaft fühlen, denn lange Jahre war zwischen dem Grill und dem Pool Room der Vorhang für „Le Tricorne“ zu sehen, der nach einem Entwurf von Picasso und mit seiner Mitwirkung 1919 für die Ballets Russes entstanden war.Ohne weiter in die Geschichte und die Ausstattung des „Four Seasons“ einzudringen, lässt sich festhalten, dass das Restaurant ein Synonym für Glamour, soziale Kommunikation, hohe Esskultur und eben auch für zeitgenössische Kunst war und teilweise noch ist. Das allerdings zeigt Kneffels Bild nicht. Dieser spezifische Ort in New York mit seinem geradezu legendären Prestige wird vielmehr so präsentiert, wie ihn seine betuchten Gäste nie wahrnehmen. In ihrer artifiziellen Zuspitzung generiert das Gemälde undeutliche Ahnungen und vage Erinnerungen. Einerseits reflektiert die Malerei die ihr eigenen Möglichkeiten und Potentiale, andererseits ist die in ihr und mit ihr ausgesprochene Botschaft ausgesprochen komplex und nicht auf einen Nenner zu bringen. Wann immer der Betrachter versucht zu benennen, was er sieht, betritt er unsicheres Terrain. Der intrikaten Vieldeutigkeit ist nicht zu entgehen. In der Verschränkung von Malerei als Malerei, von historischer Reminiszenz und gegenwärtigem Befund, von Transparenz und Opazität erweist sich das Gemälde letztlich als Falle. Wir glauben ja zu ungewöhnlicher Stunde in den Raum eines Nobelrestaurants zu blicken, sind uns aber schließlich nicht sicher, ob das auch zutrifft und nicht unterschwellig etwas ganz anderes suggeriert wird. Nach und nach stellt sich Antonionis „Blow-up“-Effekt ein und wie damals (1966) drängt sich die Vermutung auf, dass wir womöglich nicht auf ein anscheinend friedliches Ambiente blicken, sondern vielleicht doch auf einen Tatort.
Ein zweites, 2013 entstandenes Bild greift die Thematik erneut auf (2013/17). Der Blickwinkel ist ein anderer und auch das Motivrepertoire wurde so reduziert, dass sich eine einfache Struktur manifestiert. So verleihen die senkrechte Mittelachse zwischen den beiden Gemälden auf der Rückwand und die mit ihren Unterkanten zusammenfallende Horizontlinie der Darstellung Stabilität. Nur die Schrägstellung des Zweiertisches im Vordergrund markiert eine latente Unordnung. Etwas weiter hinten und unter den fast vollständig reproduzierten HOPE-Gemälden der sich ausruhende Mann, vermutlich ein Kellner, der den Imbiss weiter rechts auf einem Nebentisch noch nicht angerührt hat. Seine roséfarbene Krawatte hat er über die Augen gelegt, um nicht vom flirrenden Licht-und-Schatten-Spiel gestört zu werden. Als Ursache ließe sich ein besonnter Laubbaum vermuten, aber wo sollte der sich befinden? Eine plausible Erklärung der optischen Phänomene gibt es offensichtlich nicht. Die Malerin offeriert dem Betrachter erneut eine Fiktion, so dass man sich fragt, ob auch in diesem Fall dem Interieur eine dünne Folie oder eine Glasscheibe virtuell vorgeblendet ist, auf der sich Formen abbilden, die mit dem eigentlichen Ambiente des Restaurants nichts zu tun haben.
2013 kommt die Künstlerin erneut auf die Thematik zurück. Quasi abstrakte Konfigurationen gegenständlicher Sujets durchdringen und überlagern sich in einem Fall derart (2013/31), dass es nicht mehr möglich ist, verschiedenen Ebenen voneinander zu separieren. Zwar sind immer wieder einzelne Sujets auszumachen, und es ist auch erkennbar, dass das „Four Seasons“ als Folie für die sich überlagernden Einzelheiten abgibt. Tatsächlich ist quasi dieselbe Situation eingefangen wie auf einem vorangegangenen Gemälde (2012/ 6), nur aus einer größeren Entfernung und von einem erhöhten Standpunkt aus. Eine räumliche Struktur ist jedoch mehr zu ahnen als zu sehen. So erkennt man links unten einen üppigen Tulpenstrauß, an den Rändern dunkle Sitzmöbel auf hellblauem Teppichboden, in der Mitte einige kleine runde Tische, außerdem einen vor sich hinstarrenden Mann, der vielleicht ein ferngesteuertes Spielzeug auf dem Boden verfolgt. Im Hintergrund dann eine bunt gekleidete Tischgesellschaft sowie links weitere Gäste auf einer Estrade, deren Brüstung aus dunkelbraunen Holzpanelen besteht, die auch die Rückwand verkleiden. Rechts schließlich der Ausblick durch das große Fenster auf das gegenüberliegende Bürogebäude. Die größte Helligkeit der Darstellung konzentriert sich auf eine Zone rechts der Mitte. Man erkennt hier Geländer, Brüstungen, die geriffelte Einfassung der nach unten führenden Treppe und etliche Reflexlichter, die sich nicht zuordnen lassen. Was wie zufällig wirkt, verdankt sich einer überlegten Regie. Die Zone, die wegen ihrer Heterogenität etwas Chaotisches und Beunruhigendes ausstrahlt, ist umgeben von gegenständlichen Bereichen, die mehr oder weniger eindeutig zu benennen sind. Auch das Kolorit folgt einer raffinierten Disposition. So korrespondieren die kühlen Blautöne unten links mit dem abgeschwächten Graublau der Glasscheiben oben rechts. Die Diagonale wird von einer anderen gekreuzt, deren intensiv leuchtende Nuancen in Gold und Hellgelb halbrechts unten den Blick des Betrachters über halbtransparente Inseln nach links oben ziehen, wo ein ausgesparter Bereich einem Herrn in dunklem Anzug eine Art Aura verleiht. Vorgeschaltet sind dem allen erneut kleinere Tropfen, die vor allem die homogeneren Bereiche des Gemäldes bereichern und eine zusätzliche Irritation darstellen. Der stärkste Farbakzent befindet sich in der unteren linken Ecke, wo das Grün und das Rot der Blumen einen kraftvollen Auftakt bilden, dann aber die Aufmerksamkeit auf den Mann in der Mitte und die größere Tafelrunde im Hintergrund lenken.
Das komplexe Ensemble unterschiedlicher Formen und Farben generiert zwar keine kohärente Vorstellung des Ambientes, entfaltet jedoch eine große und unmittelbare Strahlkraft und regt verschiedene Lesarten an. Was zunächst als gestörte Ordnung, ja als Chaos wahrgenommen wird, erweist sich bei genauerer Betrachtung als Resultat einer ausgeklügelten Disposition. Vor allem die mediale Selbstreflexion erlaubt es der Künstlerin durch Spiegelungen, Projektionen und Transparenzen die geschilderte Wirklichkeit zu verfremden und zu transzendieren. So gesehen stehen Kneffels Werke auch für ein artistisches Exerzitium. Sie sind Ausweis handwerklicher Kompetenz und Bravur.
Wollte man die Bilder inhaltlich lesen, dann scheint im Hintergrund so etwas wie Ernüchterung das Movens gewesen zu sein. Das Seagram Building von Mies van der Rohe und das ursprünglich von Philip Johnson eingerichtete und inzwischen stark veränderte Restaurant standen in gewisser Weise für ein aufstrebendes und optimistisches Amerika. Das will einem zwangsläufig so erscheinen, wenn man sich die Geschichte des „Four Seasons“, seine Ausstattung und den sozialen Status seiner früheren Gäste in Erinnerung ruft.
Was ist davon geblieben? Kneffel hat, so lässt sich vermuten, die Örtlichkeiten an einem Morgen inspiziert und Fotos gemacht, die Basis ihrer Arbeit. Dass jemand sich im Restaurant ausruht, muss man nicht überbewerten. Dass Gerichte in der Lounge stehen gelassen werden, kann viele Ursachen haben. Vergegenwärtigt man sich die wenigen Gestalten, die sich in diesem Ambiente verlieren, so will auch das nicht viel besagen. Nimmt man indessen alle diese Symptome zusammen, gewinnt man den Eindruck, dass der Glanz der Malerei in eklatantem Widerspruch zu einer Wirklichkeit steht, in der sich atmosphärisch auch etwas Entleertes und fast Trostloses abzeichnet. Bei aller Opulenz des Kolorits wirkt die Staffage wie verloren. Die Gestalten sind in sich gekehrt, wirken einsam, so dass man sich unterschwellig an Werke Edward Hoppers erinnert.
Das ist – so ließe sich ein Resümee über die Bilder dieser Folge ziehen – keine Hommage an einen Ort oder an eine Institution bzw. eine Gesellschaft, sondern es ist eine ästhetische Reflexion, die letztlich ambivalent bleibt. Faszination und Kritik, Hinwendung und Distanzierung, Begeisterung und Ernüchterung halten sich in diesen Werken die Waage. Eine eindeutige Botschaft wird nicht übermittelt, aber genau das macht die Bilder so spannend und regt zu anhaltender Reflexion an. In einer Zeit, in der alles und jedes unterschiedslos machbar ist und ein Echo findet, in dem sich selbst der banalste, aber lauthals vorgetragenen Anspruch ein Echo hat, nehmen solche Arbeiten wie die von Karin Kneffel nicht zuletzt aufgrund ihrer Komplexität, Subtilität und malerischer Perfektion eine herausgehobene Stellung ein.
Andere diesem Komplex gehörige Bilder (2012/6;14) lassen erkennen, welche extremen Möglichkeiten der Manipulation und Transformation das von Kneffel entwickelte Verfahren bietet. Motivisch gehört auch ein weiteres Werk in diesen Zusammenhang (2013/01). Auf ihm ist ein kryptischer Satz zu entziffern: „Butter never crossed my mind“. Es handelt sich um eine Äußerung von Philip Johnson, der für das „Four Seasons“ einen beigefarbenen Teppich vorgesehen hatte. Der Pächter war damit nicht einverstanden, da Butter auf seinem solchen Boden hässliche Flecken hinterlassen würde, worauf der Architekt mit dem zitierten Satz geantwortet haben soll.
7.
Das hier umrissene Verfahren der Künstlerin erinnert entfernt an Bilder der amerikanischen, hyperrealistischen Malerei, die zu Beginn der 70er Jahre größere Aufmerksamkeit erlangte, bald darauf jedoch kaum noch wahrgenommen wurde.
Bei Malern wie Ben Schonzeit, Richard Estes, Malcolm Morely u.a. stößt man auf Darstellungen, die zweischichtig angelegt sind (z.B. „Strawberries and Watercolors“, von Schonzeit) , unzusammenhängende Szenen übereinander blenden (z.B. „Coronation and Beach Scene“, von Morley) oder Interieurs und Außenansichten verquicken (z.B. „Store Front“, von Estes) . Alle diese und vergleichbare Darstellungen basieren auf Spiegeleffekten und Transparenzen mit dem Ziel, disparate Phänomene zu verschachteln. Letztlich werden dabei mit Mitteln der Malerei Fotografien von Dingen reproduziert. Fokussierte Perspektive, Ausschnitthaftigkeit, mechanische Farbgebung und eine gewissen Vordergründigkeit wurden früh als charakteristisch für die Stilrichtung angesehen. Der Hyperrealismus will damit deutlich machen, dass die Realität, wie wir sie zu sehen gewohnt sind, das Resultat einer mechanischen Manipulation ist. Infolgedessen macht er seine eigene programmatische Falschheit öffentlich. Auch wenn es rein äußerlich einige Parallelen zu geben scheint, mit dem Hyperrealismus der späten 60er und frühen 70er Jahre haben die hier exemplarisch erörterten Darstellungen Kneffels nichts zu tun. Die mechanische Manipulation, die sich der Einäugigkeit der Kameraperspektiven verdankt, macht sie sich nicht zu nutze, um die eindimensionale Erscheinungsweise der Dinge aufzuzeigen, sondern um komplexe Zusammenhänge einer faszinierenden Bildwelt aufscheinen zu lassen, die neben formalen und koloristischen Gegebenheiten auch historische, kulturelle und soziale Aspekte ins Spiel bringt. Gerade die Gemälde, die sich thematisch auf bedeutende architektonische Räume wie etwa das „Four Seasons“ im Seagram Building oder Mies van der Rohes Häuser in Krefeld beziehen, machen das ebenso deutlich wie Darstellungen, die auf Filme wie Hitchcocks „Torn Curtain“ und deren Sets anspielen.8.
Dass nicht alle ihre Werke einen so hohen Grad an Vielschichtigkeit aufweisen, versteht sich von selbst. Neben den großformatigen anspruchsvollen Gemälden entstehen immer wieder kleinere Darstellungen, die ein bestimmtes Sujet variieren. So malte sie 2013 eine mehrere Werke umfassende Folge, die im Herbst 2013 in der Galerie Dirimart in Istanbul gezeigt wurde. Alle Leinwände sind nahezu quadratisch und messen jeweils 90 x 100 cm. Der Aufbau ist durchweg ähnlich. Wie so oft blickt auf eine beschlagene Glasscheibe – geradezu das Leitmotiv der letzten Zeit - , auf der etwas mit dem Finger geschrieben steht. Dahinter zeichnen sich schemenhaft urbane Situationen ab oder Landschaften in wechselnden Jahreszeiten, wobei der Winter mit viel Schnee und Eis häufiger auftaucht.
Auch hier dienten Fotos als Ausgangspunkt. Es sind durchweg banale Motive, die durch das aufgewertet werden, was sich auf der Scheibe tut. Auf dem Schlüsselbild der Serie ((2013/19) ist eine Mies van der Rohe zugeschriebene Äußerung zu lesen: “I need a wall behind me“
. Warum benötigt ein Architekt jenes Element hinter sich, das er doch von seiner tragenden und stützenden Funktion befreit und fast ausschließlich als Element der Raumgliederung eingesetzt hat? Die Wand ist eine Orientierungshilfe bzw. ein ordnendes Element, das die räumliche Wahrnehmung strukturiert. Hinter einem bietet sie womöglich auch Schutz. Eine andere Künstlerin, Monica Bonvicini, hat sich in einigen ihrer Installationen ebenfalls auf diese Äußerung des Architekten bezogen, sie aber als Ausdruck von Macht interpretiert und dementsprechend denunziert. Ihr Video „Wallfucking“ von 1995 illustriert dabei sehr vordergründig noch einen anderen Aspekt („Architecture is the ultimate erotic act, carry it to excess“).Hier ist nicht der Ort, solchen eher zufälligen Bezügen weiter nachzugehen. Fragen muss sich allerdings, warum die Malerin dieses Motto aufgreift und ihm eine derartige Bedeutung beimisst. Sie lässt nämlich den Satz ins Türkische übersetzen und malt verschiedene, wenn auch ähnliche Versionen der Übersetzung auf die beschlagene Scheibe (2013/ 20-29). Einzelne Silben und Worte wiederholen sich, doch machen die unterschiedlichen Wendungen deutlich, welches Spektrum an Variationen die türkische Sprache für einen simplen Sachverhalt aufzubieten vermag. Adressat dieses malerischen Exkurses ist das Publikum von Kneffels Istanbuler Ausstellung. Dieser überraschende Kulturtransfer kann dabei durchaus in Erinnerung rufen, dass ab den 20er Jahren eine Reihe österreichischer und deutscher Architekten wie Taut, Poelzig, Bonatz, Elsässer u.a. in der Türkei tätig waren.
Schon möglich, dass solche Bezüge die Malerin motiviert haben, den Slogan von Mies van der Rohe aufzugreifen. Immerhin hat sie sich die Formulierung zu Eigen macht, obwohl sich ihre Aufmerksamkeit eher auf eine Wand vor ihr als adäquatem Ort eigener Werke richten dürfte. Der Ausdruck Wand meint daher wohl weniger das Bauelement, sondern ist als Metapher für etwas Festes, Vorbildliches zu verstehen, mit dem bzw. von dem aus etwas Neues entwickelt werden kann. Bei Nietzsche liest sich das beispielsweise so: „Wo nur immer der moderne Geist Gefahren in sich birgt, da spürt er (der Künstler, gemeint ist natürlich Richard Wagner) mit dem Auge des spähendsten Misstrauens auch die Gefahr der Kunst. Er nimmt in seiner Vorstellung das Gebäude unserer Zivilisation auseinander und lässt sich nichts Morsches, nichts leichtfertig Gezimmertes entgehen: Wenn er dabei auf wetterfeste Mauern und überhaupt auf dauerhaftere Fundamente stößt, so sinnt er sofort auf ein Mittel, daraus für seine Kunst Bollwerke und schützende Dächer zu gewinnen.“
In nuce kann man darin fast das Programm der Postmoderne erblicken, und tatsächlich beschreibt „I need a wall behind me“ ein wenig das Dilemma des zeitgenössischen Künstlers, der an keine allgemein gültigen Traditionen oder verbindliche Werkmaßstäbe mehr anknüpfen kann, aber etwas benötigt, das er verwenden oder auf das er sich vorübergehend beziehen bzw. was er fruchtbar weiter zu entwickeln vermag. Bezeichnenderweise ist es eben nicht das Fundament, auf dem man stehen kann, sondern die Wand hinter einem, die eventuell stützende, ordnende Funktionen hat, Erweiterungen nach vorn und nach oben erlaubt, insgesamt aber auch Sicherheit bietet und einem zudem den Rücken freihält.
9.
Einen ganz anderen Eindruck evozieren Darstellungen, die einen üppigen Strauß roten Tulpen zum Ausgangspunkt haben. Zunächst sind es Stillleben von außerordentlicher Pracht (2013 / 10), dessen Blüten und Blätter sich aus dunklem, nicht näher charakterisiertem Grund hervorheben (eine Vase ist nicht erkennbar). Das Licht kommt aus verschiedenen Richtungen, von vorn, von der Seite und von oben, aber etliche Blüten am hinteren Rand versinken bereits wieder im Dunkel und färben sich violett. Zarte Schatten von kahlem Geäst und Baumstämmen deuten ebenso wie die weißlichen Töne in dieser Zone auf eine winterliche Atmosphäre. Zwei Jahreszeiten kombiniert mit Nah- und Fernsicht bzw. direktem und diffusem Licht lassen das Bouquet unwirklich erscheinen. Dieser Eindruck wird auch dadurch gesteigert, dass man keinen Ort und vor allem keinen spezifischen Raum ausmachen kann und dass die biomorphe Sphäre zugleich real und surreal anmutet. Kneffel ist zuvor bereits einen Schritt weiter gegangen und hat den Strauss an den Rand gerückt und ein gespenstisch beleuchtetes Haus im Mittelgrund zum zweiten Hauptmotiv gemacht (2012/ 7a, 7b) oder die Blüten samt Vase in leichte Bewegung versetzt oder neben dem Gebäude auch noch ein Fernsehbild auftauchen lassen. Solche Verfremdungseffekte verdanken sich dem Montageprinzip. Darüber hinaus evoziert die gespenstische Beleuchtung die unheimliche Atmosphäre von Kriminalfilmen. Das kleine zweistöckige Wohnhaus, dessen Typus man auf Fotos von Bernd und Hilla Becher wiederholt begegnet, und sein bieder aufgeräumtes Umfeld verweisen dabei auf ein kleinbürgerliches Milieu, Schauplatz vieler banaler Serien des deutschen Fernsehens. Das bizarre Ambiente ist in dieser Folge von Gemälden so eingefangen, dass die statischen Darstellungen Kneffels spannender wirken als die Massenprodukte der öffentlich rechtlichen Sender. Auf jeden Fall bleiben sie länger im Gedächtnis. Was teils grell, teils trostlos in Erscheinung tritt, ist eine Welt lebloser Surrogate, die sich in allem manifestiert. Die banale Ubiquität, in die Filmbilder von Angst und Bedrohung eingelassen sind, ist nicht geheuer, suggeriert etwas Verborgenes, Verdrängtes und Verdächtiges. Leben ist nur in den Tulpen, und die zeigen sich in ihrer Vergänglichkeit. Sie neigen sich zur Seite, knicken ein, wandern aus dem Bild, erblassen und vergehen.
In diesen Zusammenhang gehören weitere Bilder (2013/09 und 2013/32), die sich auf einen grinsenden Kopf (einem Smiley) oder ein Zeichen beschränken. Vor allem das Bild mit dem X-Symbol für ungültig überzeugt durch die subtile Verknüpfung von nah und fern bzw. von innen und außen, von Landschaft und Zeichen. Statische und dynamische Komplexe sind auf verblüffende Weise so ausbalanciert, dass das Gemälde ungemein suggestiv wirkt, weil ein vergleichsweise einfaches Sujet auf völlig überzeugende Weise malerisch zur Erscheinung gebracht ist. Da sich die Formen ungehindert ausprägen und einen gewissen Grad an Spontaneität verkörpern, zugleich aber die Ungleichgewichte der Komposition nicht stören, empfindet man das Gemälde als schön. Ganz im Sinne Schillers manifestiert sich hier eine Freiheit in der Erscheinung, und das hebt ein derartiges Werk aus der großen Masse jener bildnerischen Zeugnisse vieler zeitgenössischer Malerinnen und Maler heraus, die mit ihren Arbeiten auf unterschiedlichste Art Aufmerksamkeit gewinnen möchten.
10.
Alle diese so glanzvollen Werke Kneffels haben etwas Unfassliches, Ungreifbares und Entstofflichtes, manchmal auch etwas subkutan Verqueres und Bedrohliches. Vor allem aber suggerieren diese Darstellungen wie auch die meisten anderen ihres Oeuvres aus den letzten Jahren, dass die Welt nur als Fiktion oder Phantasmagorie zu erfassen ist und dass sie bei aller Präsenz meist undeutlich und ungreifbar bleibt, weil die Motive häufig etwas Geisterhaftes und Entrücktes bekommen. Als Betrachter, der gleichsam hypothetisch die Stelle der Malerin einnimmt, wird einem dieser Sachverhalt unmittelbar einsichtig und verrät möglicherweise auch einiges über das Selbstverständnis der Künstlerin, der das Dasein und die Welt vielleicht nur als „ästhetisches Phänomen“ gerechtfertig erscheint. Ob auf ewig, wie Nietzsche meint, sei dahin gestellt.
Im Kontrast zu der ubiquitären Produktion von Malerei, wie sie derzeit in zahllosen Galerien und Ausstellungsinstituten zu sehen ist, decken Kneffels Werke verschiedene Aspekte der Realität auf, und zwar oft solche, die sich der sprachlichen Fixierung widersetzen oder sich ihr entziehen und dennoch Aspekte der erkennbaren Wirklichkeit vergegenwärtigen. Wir betrachten die Werke und registrieren dabei zugleich unsere eigene Gegenwärtigkeit. Gelungene Kunstwerke sind Objekte, so ließe sich angesichts der neuen Bilder der Malerin mit Martin Seel argumentieren, „die imaginieren und demonstrieren, worin die Dinge in unserem Verhältnis zu ihnen unbestimmbar sind. Diese Doppelheit ist wesentlich für alles, was Kunstwerke können. Sie ist ausschlaggebend für die innere Spannung, aus der ihre Erfindungen ihr inneres Leben beziehen.“
Auch wenn viele Sujets von Kneffels Bildern zu identifizieren sind, ihr Verhältnis zueinander beschrieben und die Struktur der Kompositionen transparent und verständlich gemacht werden kann, ästhetische Erkenntnis ist damit nicht gewonnen. Analysen mögen zu begrifflich bestimmten Erkenntnissen führen oder von ihnen ausgehen. Ästhetische Erkenntnis bleibt jedoch an das sinnliche und signifikative Geschehen und damit an das spezifische Erscheinen des künstlerischen Objekts gebunden. „Alle Kunstwahrnehmung geht von einem Erscheinen und ist auf ein Erscheinen aus.“Alles in allem haben wir es mit Bildern zu tun, die keinen Emanzipationshorizont suggerieren oder Alternativen zu unserer prekären Verfasstheit aufzuzeigen. Es sind Werke, die ihre Bedeutung ausschließlich im Rahmen der Institution Kunst entfalten können. Während unser profaner Alltag von einer durchgängigen Digitalisierung geprägt ist, begegnen wir im Oeuvre der Künstlerin einem der ältesten Medien überhaupt. Malerei, wie sie Karin Kneffel praktiziert, wird jedoch nicht als obsolet wahrgenommen, sondern als eine gattungsspezifische Möglichkeit historischer Reflexion. Dabei geht es selbstverständlich nicht vornehmlich um geschichtliche Recherche bzw. um die Aufarbeitung vergangener Begebenheiten oder um die Evokation früherer Lebenswelten. Das spielt zwar insofern eine Rolle, als die Kompositionen der letzten Jahre, auf die wir uns hier konzentriert haben, wiederholt auf Mies van der Rohe, auf Philip Johnson verweisen und auch Werke verschiedener Maler und Bildhauer der klassischen Avantgarde zitieren oder auf Arbeiten der jüngeren Vergangenheit bzw. der Gegenwart Bezug nehmen. Daneben fallen Fotografie und Film besonders ins Gewicht. Die Verwendung solcher Quellen oder die Adaption medienspezifischen Praktiken geschehen dabei aber durchweg auf reflektierte Weise, indem die verfügbaren Ausgangsmaterialien transformiert und mit anderen Elementen wie freien Formen und autonomen Farben verschmolzen werden. Das Prinzip der Montage herrscht im Oeuvre Kneffels vor, aber immer so, dass die Nahtstellen der verschiedenen Motivbereiche nicht wie etwa bei der kubistischen oder surrealistischen Collage als bewusster Bruch in Erscheinung treten. Vielmehr werden die heterogenen Sphären ineinander so überführt, dass die ästhetische Erscheinung der Werke sich als Synthese des Widersprüchlichen oder als Einheit des Disparaten erweist. Welche Verfahren und Tricks die Künstlerin anwendet, um eine in sich stimmige ästhetischen Präsenz zu realisieren, lässt sich freilich nur von Fall zu Fall bzw. von Bild zu Bild aufzeigen.
Insgesamt handelt sich um eine diskursive Malerei, die auf hohem Niveau vergegenwärtigt, wie fließend der Übergang von Fakten zu Fiktionen ist, wie Erinnerungen aufscheinen oder verblassen, wie sich das Konkrete mit dem Fantastischen mischt oder der Zufall das Reflektierte durchsetzt. Auch die Aggregatzustände der Realität wandeln sich. Gebaute Räume transformieren sich und gleiten teilweise ineinander. Verschiedene Zeiten fallen zusammen. Die Gegenwart der Bilder manifestiert sich durchweg in einer Evokation des Vergangenen, sie sind Ausdruck eines durchgängigen Synchronismus. Da die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen und die Ubiquität des Widersprüchlichen die heutige Erfahrungswelt maßgeblich prägen, verkörpern sich in Kneffels Arbeiten zeitsymptomatische Befindlichkeiten. Für diese Genese ihres Sinns ist es allerdings entscheidend, so lässt sich abschließend mit Gottfried Böhm sagen, im Bild jenen Akt des Sehens jeweils wieder zu beleben, der in ihm angelegt ist. Erst das gesehene Bild ist in Wahrheit ganz Bild geworden.
An den hier kursorisch erörterten Werken Karin Kneffels lässt sich das überzeugend nachvollziehen, und das unterstreicht den beeindruckend hohen Rang ihres Schaffens.
Armin Zweite