Eefke Kleimann
Fast flüssig
Text Anlässlich der Ausstellung Karin Kneffel
STILL
Kunsthalle Bremen, Museum Frieder Burda, Baden-Baden
Eefke Kleimann, »Fast flüssig//Almost Liquid«, in:Still, Ausst.-Kat.//exhib. cat. hrsg. von // ed. by Kunsthalle Bremen, Museum Frieder Burda, Schirmer und Mosel, S.//pp. 156–165, 2019, ISBN: 978-3-8296-0873-2
Seine perfekte Muschelform glänzt im Licht. Die Inszenierung auf den fünfeckigen Fliesen verleiht ihm etwas Unantastbares. Von diesem Schokoladenpudding einen Löffel zu probieren, hat bisher noch niemand gewagt. Dieses lebensgroße Gemälde eines braunen Puddings sogenannter „Dekoramik“-Form wirkt wie ein Sinnbild für die westdeutsche Nachkriegszeit und die starren gesellschaftlichen Konventionen der 1950er und 1960er Jahre, in denen Karin Kneffel im westfälischen Marl aufwuchs. Abgeschreckt von einem Gesellschaftsmodell in dem die Lebensfragen einer Frau „Was ziehe ich an und was koche ich meinem Mann?“
Die formulierten Lebensfragen einer Frau stammen aus einem Werbeclip des Backwarenherstellers Dr, Oetker.
Die Firma stellte das Video unter folgendem Link ins Internet:
https://www.youtube.com/watch?v=pRHb4k9p7Ek
lauten sollten, legte die junge Karin Kneffel zeitweise ihren Vornamen ab und zog es vor, Axel genannt zu werden. Wie viele ihrer Zeitgenossinnen haderte sie mit den normativen Rollenbildern der Zeit.
Informationen zu Karin Kneffels Biographie und persönliche Perspektiven auf ihre Arbeit
wurden einem eigenen Interview sowie verschiedenen öffentlich geführten Gespächen mit der Künstlerin entnommen.
Einige ihrer Werke berühren Kneffels Kindheit und Jugend in den späten 1950er bis 1970er Jahren. Dazu zählen an Zeitgeist reiche Darstellungen wie u. a. der bereits genannte Pudding in „Dekoramik“-Muschelform, ornamentreiche Interieurs, Röhrenfernseher und ausgestopfte Tiere, die einfachen Mehrfamilienhäuser der 1950er Jahre, wie man sie aus dem Ruhrgebiet kennt und in denen die Malerin selbst aufwuchs. Trotzdem wirken ihre Bilder weder nostalgisch noch eindeutig in Zeit und Raum verhaftet. Denn die Zeit- und Bildebenen verflüssigen sich: Zeitmarker wie Architektur und Innenausstattungen, Bildzitate alter Filme, zeitlose Motive, Momentaufnahmen von Zuständen, Prozessen und Blicken, rätselhafte Perspektiven, irritierende Spiegelungen. „Ihre Zeit“, beschränkt auf die Zeit ihrer Jugend, das gibt es für Karin Kneffel nicht. Ihre Zeit ist immer, sie trägt ihre Erinnerungen, Bilder, Eindrücke mit sich und bedient sich an ihnen immer wieder aufs Neue für die nächsten Werke.
In Hinblick auf die Entwicklung ihrer künstlerischen Begabung war ihre Jugend allerdings prägend. Als Linkshänderin durchlief sie die damals zwar konventionelle, jedoch diskriminierende Umpolung. Ihr Kunsterzieher erkannte aber, dass ihre linke Hand kein Defizit war, sondern Werkzeug einer besonderen Begabung werden konnte. Als sie später während des geisteswissenschaftlichen Studiums in Münster als Modell in einem Zeichenkurs ihr Zubrot verdiente, griff sie selbst zum Stift, wurde sich ihrer Leidenschaft bewusst und wechselte an die Akademie. In Düsseldorf studierte sie dann bei Johannes Brus, Norbert Tadeuzs und Gerhard Richter und war schließlich bei Letzterem Meisterschülerin. Später setzte sie sich künstlerisch mit dem Werk Richters auseinander und widmete zwei Werkgruppen seiner berühmten Kerze (1982) und seinem ikonischen Gemälde Betty (1982).
Die Auseinandersetzung mit dem Portrait
Eine frühe Werkgruppe, die die Malerin nach ihrem Studium entwickelte, besteht aus 300 kleinformatigen Tierportraits. Jedes einzelne misst nur 20 x 20 cm und steht damit in Kontrast zu Kneffels monumentalen Darstellungen von Früchten oder Feuern, die auch über 7 m breit sein können und nur wenige Jahre später entstanden. Mit der Darstellung von Tieren wie Schafe, Ziegen, Schweine, Hühner oder Kühe, hat sich die Malerin bereits zu Beginn ihrer Karriere mit einer zentralen Gattung der Malerei auseinandergesetzt – dem Portrait. Dabei fasste sie jedes Tier gleichgroß auf, ungeachtet der Tatsache, dass ihre Dimensionen in der Realität ganz anders ausfallen. Mal im Profil, mal frontal, immer vor einem einfarbigen Hintergrund malte sie die Köpfe der Nutztiere, zu denen sie aufgrund der Domestizierung eine gewisse Nähe, als Städterin jedoch auch eine Distanz empfand. Für eine Ausstellung arrangiert sie eine Auswahl der kleinen Formate dann immer in Bezug auf den jeweiligen Raum neu. Sie setzt sie wie ein Mosaik neu zusammen, und folgt dabei einem eigenen Algorithmus, der vorgibt, in welcher Reihenfolge die Tierarten hängen.
Kneffel erforschte mit dieser Serie nicht nur die Erscheinung und das Verhalten der von ihr portraitierten Tiere, sondern arbeitete sich auch am Bildtypus Portrait ab, den sie in Bezug auf die Darstellung von Menschen in ihrem malerischen Werk ansonsten ablehnt. Zu psychologisch und zu nah empfindet sie ihn für ihr eigenes Schaffen und arbeitet immer dann, wenn menschliche Figuren in ihrem Werk auftreten, mit Effekten der Verfremdung, Verschleierung, Distanzierung. So ist selbst ein Bild der Schauspielerin Doris Day von 2016 kein klassisches Portrait. Wir sehen sie in ihrer Rolle als Jo McKenna in Alfred Hitchcocks Film Der Mann, der zuviel wusste von 1956. Das Bild mutet wie ein Filmstill an, bei dem Doris Day – gebettet auf einem blauen Kopfkissen – sehnsuchtsvoll nach oben schaut. Auf den ersten Blick mag man fast glauben, das Bild sei nicht fertig gemalt. Grobe Weißflächen an Wangen und Kinn umschließen vereinzelten Farbauftrag. Zudem sind die Bluse und das Kopfkissen weder stofflich noch farblich von einander differenziert. Tatsächlich ragt ein feiner, schwarzer Pinsel noch mitten ins Bild hinein, ist gerade noch beim Auge der Dargestellten aufgesetzt. Wir sehen also das gemalte Bild von einem Filmbild, das im Begriff ist, gemalt zu werden. Die Malerin malt ihr eigenes Malen. Sie zeigt uns, was sie sieht, während sie dieses Bild schafft. Auf einmal mutieren gar wir als Betrachter aufgrund unserer Perspektive zu den Malern dieses Bildes, die selbst den Pinsel halten. Vielmehr als ein Portrait von Doris Day ist dieses Werk eine Reflexion über das Entstehen von Bildern durch ihre Produzenten und ihre Rezipienten. Dabei verflüssigen sich solche eindeutigen Rollenzuordnungen. Karin Kneffel lässt uns uns nicht im sehnenden Blick der Figur verlieren, sie hält uns dazu an, den Status des Bildes und eigene voreilige Schlüsse zu hinterfragen.
Das unbekannte Damals
Der Kneffel-Kennende wird nicht nur wegen der Popularität der Dargestellten den Eindruck gewinnen, das Bild schon einmal gesehen zu haben. Das Gemälde vom Filmstill wird hier zwar noch als im Malprozess dargestellt, tatsächlich aber verarbeitete Kneffel die gleiche Sequenz bereits drei Jahre zuvor. Hierbei spielt zwar nicht der komplizierte Medientransfer von Film zu Malerei eine entscheidende Rolle, jedoch bleibt die Frage nach dem Bildträger des vorgeblichen Doris Day-Portraits auch hier relevant. 2013 schuf die Malerin einen ganzen Zyklus von Fassadenansichten einfacher, hell verputzter, dreistöckiger Nachkriegs-Mehrfamilienhäuser mit Satteldach. Immer wieder variierte sie die Perspektiven, die Farbstimmungen und Lichteffekte und schuf dabei in jedem Bild der Serie eine spannungsreiche, knisternd-düstere Atmosphäre. Selbst in einem solchen Gebäude aufgewachsen, war für Kneffel in Kinderjahren die Vorstellung prägend, dass alle Häuser gleich aussähen und somit auch die Wohnräume mit einer gleichen Lebensart gefüllt sein mussten. Der Blick aus dem Fenster lieferte also das Spiegelbild des eigenen Alltags. So schauen wir Betrachtenden wie aus einem Fenster an einem Tulpenstrauß und dessen Reflexion sowie der Spiegelung des Hitchcock-Fernsehbildes vorbei auf ein von ornamentalen Schattenspielen geschmücktes Haus .
In anderen Gemälden dieser Werkgruppe werden auch Sequenzen von Hitchcocks legendären Cameo-Auftritten und somit seine Selbstbefragung als Künstler zitiert. Besonders prägnant der scheinbare Handabdruck seiner Linken und Rechten. Abgeleitet hat Kneffel das Bildelement aus einem Making-Of-Foto , in dem der Regisseur mit erhobenen Händen vor der Hauptdarstellerin des Filmes Der zerrissene Vorhang (1966), Julie Andrews, steht. Jedoch taucht der Abdruck nicht als Element einer Fernsehbildspiegelung im Fenster auf, sondern es wirkt, als wären die Hände direkt auf die gemalte Scheibe aufgelegt worden. Tatsächlich handelt es sich aber dabei nicht um einen wirklichen Handabdruck auf der Leinwand, sondern um das gemalte Bild eines Abdrucks. Kneffel selbst testete den Effekt in ihrem Atelier mit den eigenen Händen und einer Glasscheibe, fotografierte das Ergebnis und malte den Abdruck dann akribisch ab (.
Als sie dieses Bildelement dann im selben Jahr in eine ganz andere Szene wieder integrierte, zitierte sie sich, aber auch die dokumentarische Fotografie von den Dreharbeiten zu Hitchcocks Der zerrissene Vorhang . Kneffel verunsichert uns Betrachter mit der Integration immer gleicher bzw. ähnlicher Objekte in unterschiedlichste Werke: haben wir dieses Bild nicht schon einmal gesehen und aus welchem Zusammenhang kennen wir es? Die Grenzen der einzelnen Werke verschwimmen in unserer Wahrnehmung, Unterschiede werden unscharf. Der Aggregatzustand der Bilder gerät ins Schwanken – eigentlich in sich abgeschlossene Werke werden zu Variationen, zu Facetten, zu unterschiedlichen Versionen von Ideen – sie verflüssigen sich und füllen einen Raum dazwischen.
Dabei gibt es einen ganzen Fundus an Motiven, die wir immer wieder auf unterschiedlichsten Werken finden wie die Tulpen, das X-förmige Kreuz, die putzenden Frauen, Perserteppiche spezielle Hunderassen oder den Vorhang in blauen, türkisfarbenen und grünen Tönen.
Diese Momente in der Begegnung mit Karin Kneffels Werk, die man gemeinhin auch als Déjà-Vus beschreiben kann, pointierte die Malerin auf besondere Weise in einem ortsspezifischen Projekt, das sie 2009 im Haus Esters und Haus Lange in Krefeld umsetzte.
Beeindruckt und inspiriert von einer Ausstellung des amerikanischen Malers Eric Fischl im selben Museum, nahm sie die Räumlichkeiten der Mies van der Rohe-Bauten zum Ausgangspunkt. Intensive Recherchen führten zu einer malerischen Auseinandersetzung mit der Geschichte des Ausstellungsortes, der ursprünglich privater Wohnsitz der Sammler Lange und Esters war. Dabei untersuchte Kneffel historische Fotos der u. a. mit Kunst und Design ausgestatteten Innenräume, malte sie lebensgroß und hing sie an die passenden Wände in den heute eingerichteten Ausstellungsflächen. Unbehagen, Irritation, fremdes Wiedererkennen mögen Empfindungen der Besucher dieser Ausstellung gewesen sein. Auf der einen Seite standen sie in den Räume des Hauses mit White Cube-Anmutung – auf der anderen blickten sie wie unbemerkte Beobachter durch Strukturen wie Wassertropfen und Luftbläschen in die privaten Interieurs der Menschen, die einst hier lebten. Wie Zeitreisende oszillierten die Betrachter der Krefelder Schau zwischen dem Hier und Jetzt und dem ihnen unbekannten Damals. Die unsichtbare Scheibe, durch die man bei diesen Bildern zu schauen scheint, lässt die Historizität des Dargestellten begreifbar werden.
Eine neue Version ist verfügbar
Bei der Zwischenüberschrift handelt es sich um ein direktes Zitat eines Titels von Dirk von Gehlen.
Update. Eine neue Version ist verfügbar,erschienen 2013 im Metrolit Verlag.
Seine Publikationen sind zentral für das Verständnis von Kultur als Software.
Das Krefelder Projekt wirkt bis heute in Karin Kneffels Schaffen nach. Vor allem die Auseinandersetzung mit den Bauten Mies van der Rohes stellt seitdem einen Schwerpunkt in ihrem Werk dar. Dabei beschäftigte sich die Künstlerin u. a. intensiv dem Mies van Rohe-Pavillon in Barcelona, mit dem Seagram-Building in New York oder zuletzt mit dem Lehmbruck-Museum in Duisburg, das vom Mies-Schüler Manfred Lehmbruck entworfen wurde und den Einfluss des bekannten Bauhaus-Architekten transportiert.
In Hinblick auf die Auseinandersetzung mit dem Mies-Ensemble in Krefeld muss die Ausstellung 2009 ebenso eher als Anfang denn als Abschluss betrachtet werden. Schließlich bemerkte Karin Kneffel im Nachgang, dass sie bei der künstlerischen Erforschung der Interieurs die auf den dokumentarischen schwarzweißen Fotos abgebildeten Kunstwerke von Esters und Lange außer Acht gelassen hatte. Darunter ikonische Arbeiten von Künstlern wie Ernst Ludwig Kirchner, Oskar Kokoschka, Wilhelm Lehmbruck oder Marc Chagall. Mit detektivischem Gespür, Beharrlichkeit und langem Atem schrieb sie nach und nach den abgebildeten Kunstwerken Künstler und Titel zu, erforschte die gegenwärtigen Standorte und suchte die Werke mehrmals auf, um sich ihnen immer mehr anzunähern. Zurück im Atelier begann sie dann die Krefelder Villen noch einmal zu malen – dieses Mal mit einem besonderen Fokus auf die Sammlung der einstigen Bewohner, versetzt mit geisthaften Strukturen, besonderen Beleuchtungen, flüssig anmutenden Effekten und Andeutungen von putzendem Staffagepersonal.
Parallel dazu entstand eine Serie von Gemälden, die die von ihr ersuchten Kunstwerke an ihrem zu diesem Zeitpunkt aktuellen Standort zeigen – in der Neuen Nationalgalerie in Berlin oder dem Städel in Frankfurt am Main etwa. Dabei stieg sie so tief in die Materie ein, dass unmittelbar nach ihrem Hinweis auf die frappierende Diskrepanz zur historischen Installation in Krefeld gar im Frankfurter Städel die Hängung eines Gemäldes um 180° korrigiert wurde.
Den Fortschritt ihrer Ermittlungen hielt Karin Kneffel währenddessen auch noch malerisch fest. So malte sie eine Vielzahl ihrer Recherchequellen – die teilweise unscharfen, verschwommenen, schwarzweißen, historischen Fotos – ab und kommentierte auf der Leinwand mit Unterstreichungen, X-Kreuzen, Häkchen oder Klammern in roter Farbe. Was wie ein breiter, pastos aufgetragener Pinselstrich aussieht, ist tatsächlich das abgemalte Bild eines solchen Farbauftrags. Eigentlich eine schnelle, impulsive, gestische Notiz, so wird ihr durch die mit malerischer Meisterhaftigkeit, feinteilig aufgetragene rote Farbe in Karin Kneffels Bildern die Momenthaftigkeit, das Prozessuale fast ausgepresst. Die Aktualität eines Wissensstand oder eines Vorhabens wird auf die Gemälde gebannt. Auch hier ändert sich der Aggregatzustand. Allerdings von flüchtig zu (mani-)fest.
Vom Feuer zum Wasser
Das Erproben der Möglichkeiten und die Erkundung des Wesens der Malerei spielten schon in den frühen Jahren von Karin Kneffels künstlerischem Schaffen eine wichtige Rolle als sie in einer Serie von bisweilen monumentalen Gemälden Feuer unterschiedlichster Arten und Intensitäten malte. Der bedrohliche Tanz der Flammen entfaltet auf der Leinwand ein durchdringendes Wechselspiel von reizender Anziehung und nachhaltiger Verschreckung. Wie kann man den nur schwer kontrollierbaren Charakter der Flammen auf eine Leinwand bannen? Als Naturgewalt trägt das Feuer das Zerstörerische in sich und ist ein Bild für menschliche Urängste, verbunden mit kulturell geprägten Vorstellungen vom Höllenfeuer. Gleichzeitig war die Erzeugung von Feuer eine wichtige Etappe für die Entwicklung des Menschen – als Licht- und Wärmequelle ist es Lebensspender.
Ähnlich vielschichtig steht es um das Element Wasser. Kneffels vielfältige Auseinandersetzung reicht bis in die Gegenwart. Ganz buchstäblich verflüssigen sich die Gemälde der letzten zehn Jahre, in denen unser Blick droht zu verschwimmen und Wasserspuren unsere Sicht auf die weiteren Bildebenen formen. Dazu arbeitet sie in ihrem Atelier wie in einem Labor und erforscht, wie ihre Bilder hinter beschlagenen, feuchten, oder gar nassen Glasscheiben wirken, welche Spiegelungen in den kleinen Wasserperlen sichtbar werden, wie es aussieht wenn man mit dem Finger auf mit Wasserdampf oder Kondenswasser benetzte Fenster malt.
Manchmal erfordert ihre vielschichtige Nass-in-Nass-Malerei, dass sie bis zu 15 Stunden am Stück arbeitet. Wenn sie keinen guten Abschluss findet und Sorge hat, es könnte eine Farbnaht auf der Leinwand entstehen, legt sie sich für drei Stunden auf das Sofa in ihrem Atelier, schließt die Augen und setzt noch vor dem Durchtrocknen der Farbe den Pinsel auf ein Neues an. Dabei weiß sie auch, dass Leinwände geduldig sind, dass Bilder manchmal zu Seite gestellt werden müssen, bevor sie sie vollenden kann, aber manchmal eine Idee auch nicht trägt oder sie an ihre malerischen Grenzen stößt.
Wände aus Glas…
Die jüngsten Arbeiten aus dem Jahr 2018 sind komplexe Kompositionen, gespickt mit Hinweisen auf Karin Kneffels in Jahrzehnten entwickeltes motivisches Repertoire, das sich hier aber in einem neuen Gewand zeigt. Die Serie von bisher drei querformatigen Gemälden zeigt den Blick ins Lehmbruck-Museum in Duisburg (###). In der Mitte des Ausstellungsraumes, indem sich moderne, figürliche Skulpturen befinden, steht ein gläserner Kubus. An ihm arbeiten derweil Reinigungskräfte, schäumen die Scheiben ein, wischen und ziehen sie ab. Anders als bei ihren früheren Gemälden, in denen die Figur der Putzenden immer von Frauen dargestellt wurde, sind es dieses Mal Männer, die mit nahezu malerischem Gestus den Kubus bearbeiten. Hier zitiert Kneffel nicht mehr die Reinmachefrauen, wie sie auch in den Hitchcock-Filme zu finden sind, sondern springt in ihre eigene Gegenwart, in der die überholten Tätigkeitsbereiche von männlich und weiblich bisweilen beginnen zu verschwimmen. Die nüchterne Form des Glaswürfels, die symbolhaft für die funktionalen Vorstellungen des Bauhauses und die modernistischen Tendenzen der Minimal Art steht, wird durch die an gestische Abstraktion erinnernde Darstellung der Wasser- und Schaumspuren gebrochen. Wie im Vorbeigehen zitiert Karin Kneffel auf humorvolle Art und Weise das Neben- und Gegeneinander konträrer künstlerischer Positionen ihrer Vorgänger-Generationen. Dazu gesellen sich die Skulpturen Lehmbrucks, die das Tableau um das Figurative ergänzen. Die Tatsache, dass in der Zeit, in der die großen Debatten um „die Malerei nach dem Ende der Malerei“ geführt wurden vor allem Künstlermänner Anerkennung und Bekanntheit erlangten, kann man als humorvoll-feministische Anspielung in die große Geste der Fensterputzer hinein interpretieren.
Auch wird die in der Moderne zur Ikone gewordene kubische, gläserne Architektur durch die banal-alltägliche Praxis des Säuberns konterkariert. Karin Kneffel zeigt in ihrem Werk der letzten 10 Jahre ein dezidierte Faszination für diese legendären Bauten, aber sie versäumt es dabei nicht, ihnen in ihren Gemälden eine gewisse Bodenhaftung zu verleihen. Mal sind es welkende Tulpen oder die im Aschenbecher noch glühende Zigarre Mies‘, mal hält ein Kellner im noblen Four Seasons-Restaurant in Mies New Yorker Seagram-Building vor Burgern und Softdrinks sein Mittagsschläfchen . Die cleanen, gläsernen Welten die man häufig von menschenleeren Abbildungen aus Hochglanzmagazinen und kunsthistorischen Katalogen kennt, werden in Karin Kneffels Darstellung zu Spielorten unbekannter, vergangener oder in der Zukunft liegender Alltäglichkeiten.
…in einer gläsernen Gesellschaft
Dabei entsteht eine bemerkenswerte Referenzkette: wie unbemerkte scheint man durch Fenster in Räume zu schauen, die architektonisch durch einen besonderen Einsatz von Glas geprägt sind. Es spielt häufig keine Rolle, dass dort, wo sich der Blick für den Betrachter öffnet, meist gar kein Fenster im real existierenden Bau liegt. Die von Kneffel eingeschobene Bildebene des Glases, die vor allem durch Spiegelungen und andere Oberflächeneffekte in Erscheinungen tritt, ist Mittel der Distanznahme, Ausschluss des Betrachters, Vermittlung zwischen den uneindeutigen Zeitschichten, die zwischen dem Dargestellten und der Betrachterzeit liegen. Nie ist eine direkte Kommunikation zwischen dem Personal in Kneffels Bildern und uns Betrachtern möglich. Meist dreht es uns den Rücken zu, döst oder ist in seine Tätigkeit vertieft. Wir Betrachter sind Voyeure – schauen unbemerkt durch die gläsernen Wände als wären wir zugleich am selben, aber irgendwie auch an einem ganzen anderen Ort zu einer anderen Zeit.
Eine Rezeptionserfahrung, die in unserer digitalisierten Gesellschaft längst zum Alltag geworden ist. Wir haben uns unlängst daran gewöhnt, mit unseren Smartphones und mithilfe von Sozialen Netzwerken, Chats und Trackingsoftware intensive Einblicke in Räume, Beziehungen und Situationen zu erhalten, ohne selbst aktiv daran beteiligt zu sein. Zwar gibt es durch Kommentare, Emojis und Hashtags die Möglichkeit, in Kontakt zu treten, aber der Anteil des Bilder- und Datenkonsums eines Einzelnen liegt weitaus höher, als der der eigenen Produktion.
Dirk von Gehlen, Update. Eine neue Version ist verfügbar,
Metroit Verlag, Berlin 2013, S.80
Karin Kneffel hat sich die Bild- und Zeichensprache des Digitalen zu eigen gemacht und kommentiert ab und an selbst anhand von Smileys und Bildzeichen innerhalb eines Gemäldes. Dadurch entsteht eine Metaebene, die auch schon in anderer Weise bei dem Doris Day-Bild anklang. Die Simultanität des Produzierens und Präsentieren eines Werks, der kritischen Auseinandersetzung mit dem Bildthema und der eigenen Darstellung sowie die Kommunikation mit dem Rezipienten wird dabei zu einem zentralen Aspekt des Gemäldes. Durch den Smiley spricht die Malerin unmittelbar zu uns Betrachtern, wobei das Unpersönlich-Abstrakte des Emoticons ihre Präsenz verschleiert. Publizisten wie Dirk von Gehlen sprechen passend hierzu von Verflüssigungstendenzen von Kultur und Gesellschaft. Aufgrund der Veränderungen von Kommunikation und Mobilität sollten wir „Kultur weniger als Produkt, sondern mehr als Prozess denken, in dem nicht einzig ein robustes Werkstück, sondern die Entstehungsversionen eine Rolle spielen.“
von Gehlen 2013, S. 8.
Das Making-Of als neuer Raum
In ihrem 2015 erschienen zweiteiligen Katalog Endlich legt Karin Kneffel ihren Werkprozess umfangreich offen und veröffentlicht in einem der beiden Bände ein bildreiches Making-Of zu den Werken, die im anderen abgebildet sind. Großformatige Fotos vom Schaffensprozess zeigen Leinwände mit groben Kohlevorzeichnungen und ersten gemalten Partien. Manchmal scheinen die Bilder auch schon kurz vor der Vollendung zu sein. Die Malerin wendet uns auf diesen Fotos häufig den Rücken zu, ist vertieft in die Arbeit. Auf manchen Aufnahmen sieht man einen kleinen Röhrenfernseher oder einen Laptop mit laufendem Programm neben ihr stehen. Ab und an benötigt sie diese Geräuschkulisse, das Flimmern, wenn sie stundenlang allein im Atelier verbringt. So hat sie das Gefühl, der Einsamkeit der Arbeit entgegenzuwirken. Durch die Fotodokumentation haben wir Anteil daran, wie Kneffel einzelne Effekte und Bildebenen im Studio erprobt und per Fotografie dokumentiert, um sie dann auf die Leinwände übertragen zu können. Mit dem Zeigefinger fährt sie dafür über die beschlagene Fensterscheibe mit Blickrichtung in ihren Garten und schreibt „Butter never crossed my mind“ oder „I need a wall behind me“ – nahezu poetische Zitate von Philip Johnson und Mies van der Rohe, die sie sich auf diese Weise aneignet. Oder sie lässt jemanden eine Ölstudie hinter eine Scheibe halten und kann dabei studieren, wie das feuchte Glas Farbwirkung und Bildschärfe verändert.
Mit einer beeindruckenden Offenheit gewährt uns die Künstlerin Blicke auf die verschiedenen Versionen ihrer noch nicht abgeschlossenen Werke. Humorvoll und gelassen dekonstruiert sie dabei auch mystifizierte Künstlerbilder, etwa wenn sie sich mit einer aufgeblasenen Trockenhaube im Studio ablichten lässt.
Karin Kneffel hat keine Angst davor, dass wir dem Geheimnis ihrer Bildwelten auf die Spur kommen oder sie gar durch die Einblicke in den Schaffensprozess entzaubert würden. Ganz bewusst lässt sie uns Betrachter in ihren Publikationen – nicht in Ausstellungen, nicht durch offene Atelierbesuche – an den Etappen der Entstehung teilhaben.
Diese Art der kontrollierten Teilhabe ist in den letzten zehn Jahren fast zur Konvention im Kunstbetrieb geworden. Dabei werden aber vor allem dynamische Onlinemedien eingesetzt wie Instagram, das derzeit wohl relevanteste soziale Netzwerk für bildende Künstler und Künstlerinnen. Durch tägliche Videoclips, Fotogalerien und Markierungen von Orten und Personen lassen sie ihre Anhängerschaft fließend an ihren Aktivitäten und Begegnungen teilhaben. Dabei kann der Grad der Authentizität und Inszenierung bei jedem Beitrag variieren. Der Kunsthistoriker Wolfgang Ullrich konstatierte zu dieser Entwicklung in einem Interview mit Dirk von Gehlen: „[W]ir haben [...] seit einigen Jahren einen regelrechten Making-of-Kult. Da wird dem Rezipienten ein Gefühl von Zeugenschaft und Teilhabe vermittelt. Ich bin zwar nicht live dabei bei dem Schöpfungsprozess, aber ich darf ihn im Nachhinein komplett verfolgen. Das allein wird schon als Privileg empfunden.“
Wolfgang Ulrich zit. nach von Gehlen 2013. S.92.
Das Öffnen des Ateliers und die Einblicke in die Arbeitsprozesse ermöglichen einen neuen Erlebnisraum, in dem sich Künstlerin, künstlerische Arbeit und Betrachter begegnen können. Dabei entsteht die Tendenz, eher ein Werk als einen Träger verschiedener Versionen zu verstehen und eine Perspektive auf das künstlerische Schaffen, die vielmehr den ephemeren Charakter des Malens als dessen Produkte fokussiert. Von Gehlen schließt dazu: „Die Digitalisierung macht Kunst und Kultur zu Software – zumindest sollten wir sie, um die veränderten Bedingungen im Digitalen verstehen und nutzen zu können, wie Software denken. Wir sollten den Begriff der Version dem des abgeschlossenen Original-Werkstücks entgegenstellen.“ von Gehlen 2013, S. 16.
Gemalte Momentaufnahmen
Bei Karin Kneffel werden diese Prozesse nicht nur in Studio-Dokumentationen festgehalten, sondern auch in ihren Gemälden konserviert sie Momente, Etappen und Erkenntnisse, deren Entwicklung man dann in einem folgenden Bild weiter beobachten kann. Als zentrale Beispiele für diese gemalten Momentaufnahmen können die Werkgruppen beschrieben werden, die durch Karin Kneffels Auseinandersetzung mit dem Haus Esters und Haus Lange in Krefeld entstanden und sich über mehrere Jahre entwickelten. Aber auch der Smiley, den sie auf eine von ihr gefertigte Velázquez-Variation setzte, scheint eine Art Kommentarfunktion zu erfüllen, die das Dargestellte auf gewisse Weise aktualisiert, zum Gegenstand eines in diesem Moment stattfindenden Diskurses macht. Auf nur einem einzigen Bild gelingt es der Malerin verschiedene Momente zusammenzubringen und das Gefühl von unterschiedlichen Zeitlichkeiten zu evozieren. Buchstäblich passiert dies auch bei Interieurszenen, bei denen sich Spiegelungen von Tieren oder Objekten in Haltung oder Bewegung von ihrer Quelle unterscheiden oder wenn schleierhafte Reflexe auf der Bildoberfläche auftauchen, die uns das Gefühl vermitteln in einem fahrenden Vehikel zu sitzen, während wir durch eine Glasscheibe nach draußen schauen. Da kommt Zeit ins Bild – und zwar nicht als wilde, malerische Geste oder gar in Form von Drippings. Es sind keine abstrakten Spuren eines schnellen Impulses, die uns das Gefühl von Bewegung, Lebendigkeit, Momenthaftigkeit vermitteln, sondern die figurativen Bildelemente und die teilweise fantastischen Effekte wie alternierende Reflexionen, verschwimmend glänzende Materialien oder geisterhafte Schwaden, die von der Malerin mit kleinem Pinsel und in hochkonzentrierter, lasierender Manier aufgetragen werden. Dabei setzt Karin Kneffel auf ihren gegenständlichen Bildern die Naturgesetze außer Kraft und liquidiert das, was gemeinhin als Wirklichkeit oder Norm gesehen wird – sei es in naturwissenschaftlicher, gesellschaftlicher oder künstlerischer Sicht: Spiegelbilder sind keine genauen Entsprechungen ihres Originals, Frauen in Dirndl tragen Waffen und in Mies van der Rohes Barcelona-Pavillon steht plötzlich Georg Kolbes Skulptur Der Abend, obwohl eigentlich sein Morgen darin zu sehen ist.
Mash Up
Letzteres Beispiel könnte man mit Dirk von Gehlens Worten als „Mash Up“ Dirk von Gehlen, Mash Up. Lob der Kopie, Suhrkamp, Berlin 2011.oder „Remix“ von Gehlen 2013, S.59. bezeichnen. Karin Kneffel eignet sich einen bestimmten Ort malerisch an – den Barcelona-Pavillon – und implantiert dann in den von ihr gemalten Mies-Raum, ein anderes existierendes Werk von Kolbe, als jenes, das man tatsächlich dort findet. Aber auch innerhalb ihres eigenen Œuvrs zitiert, mischt und ersetzt sie – so finden sich auf Werken unterschiedlichster Zyklen immer wieder Tulpensträuße, spezielle Vorhänge, Teppiche, Filmprotagonisten oder zitierte Werke der Kunstgeschichte, die sie dann in einem komplexen Spannungsfeld zwischen Déjà-Vu, Dokument und Fiktion miteinander in Beziehung setzt.
Das vergleichende Sehen von Kneffels Werken ermöglicht zudem einen Rückschluss auf den Werkprozess. Die Tatsache, dass bestimmte Elemente immer wieder auftauchen, deutet auf eine Art fragmentarisches Bildarchiv hin, das sich aus Karin Kneffels Erinnerungen, Fundstücken und Fotos sowie dem über die Jahre ermalten Repertoire spickt. Reizvolles, das ihr im Alltag begegnet, fotografiert, skizziert oder sammelt sie und bedient sich dann an diesen visuellen Vorlagen um Anregungen für ihre Bilder zu finden. Solche Elemente werden in ihnen eigentlich fremde Räume integriert und in neue Kontexte gestellt. Obwohl die Malerin den Anspruch erhebt, einen Ort wie einen Salon im Haus Esters oder Haus Lange prinzipiell richtig darzustellen, tauscht sie auch schon einmal ein ornamentales Textil durch eines mit anderem Muster aus oder setzt die Putzfrauen eines Hitchcock-Films auf die Böden der Krefelder Villen, obwohl diese dort nie waren. Diese Aneignungs- und Remix-Prozesse entwickelten sich in Karin Kneffels Werk zeitgleich mit der Digitalisierung unserer Gesellschaft und der sich intensivierenden „Referenzkultur“ von Gehlen 2013, S.59. des Internets seit den 1990er Jahren. Das vernetzte Denken, Begriffswolken und Querverweise prägen heute unsere Vorstellung von Wissensgenerierung und -organisation. Inhalte können durch verschiedene Schlagworte immer wieder neu miteinander vernetzt werden und somit in anderen Sinnzusammenhängen stehen. Das hat Auswirkungen auf unser Denken: vielmehr als lineare Strukturen scheint das Rhizom als treffendes Bild dafür.
Zur Therorie des Rhizoms siehe u.a. Gilles Deleuze, Felix Guattari. Rhiziom, Merve Verlag, Berlin 1977.
Blickt man auf Kneffels Werkgruppen, die vom Haus Esters und Haus Lange ausgehen, so lassen sich visuell die unterschiedlichen Entstehungszeitpunkte nicht ausmachen. Die Werke stehen in der Rezeption in keiner Chronologie, sondern spannen ein gemeinsames Netz von Verbindungen auf.
Die Kunstgeschichte – ein ziemlich alter Remix
Die Bezugnahme von bildenden Künstlerinnen und Künstlern auf Werke von Vorgängern oder Zeitgenossen hat allerdings Tradition in der Kunstgeschichte und ist keine Errungenschaft seit der Digitalisierung. In Ausstellungen wie Vom Nutzen und Nachteil des Zitierens für die Kunst (Kunstverein Hannover 1979), Originale echt falsch (Weserburg, Bremen 1996) oder Déjà-Vu? Die Kunst der Wiederholung von Dürer bis Youtube (Kunsthalle Karlsruhe 2012) wurde unter Beweis gestellt, dass „[d]as Kopieren und Reproduzieren besonderer Vorbilder […] eine weit verbreitete künstlerische Praxis [ist] die so alt ist wie die Kunst selbst.
Ariane Mensger, Déjà-Vu. Von Kopien und anderen Originalen, in Ausst.-Kat., Dires.(Hg):
Déjà-Vu?
Die Kunst der Wiederholung von Dürer bis Youtube, Kunsthalle Karlsruhe, Kerber Verlag, Bielefeld/Berlin 2012. S.30-45,S.30.
In letzterer Schau, u. a. kuratiert von Wolfgang Ullrich, wurde der Bogen vom Vera Icon bis in die Gegenwart geschlagen und die neuen Medien mit Portalen wie Youtube oder Flickr mit einbezogen. Versucht man eine Geschichte des künstlerischen Rückgriffs zu entwickeln, so lassen sich Brücken von der Buchmalerei bis in die Digital Art schlagen – Kunstgeschichten und Werke, die sonst nur schwer miteinander in Berührung kommen würden. Hergebrachte Kategorie geraten ins Wanken.
Karin Kneffel sagte einmal in einem Interview, sie selbst sei wie ein Schwamm, der alles, was ihn umgibt, in sich aufsaugt. Es ist bemerkenswert, wie die Künstlerin hier eine Metapher aufruft, die die eigene Umwelt als etwas Fluides beschreibt und damit ein Vokabular, das eingesetzt wird, um die Folgen der Digitalisierung für die Gesellschaft zu begreifen. Betrachtet man Bilder wie oder hat man fast den Eindruck, sie habe so einen Schwamm über ihre Werke ausgedrückt, sie mit sich übergossen. Sie werden in gewisser Weise sogar unkenntlich durch die Wasserbahnen, verschleiern, sind nicht in ihre Einzelteile zerlegbar. Wir können solche Bilder von Karin Kneffel nicht ergründen. Ihr Œuvre besteht zwar aus scheinbar abgeschlossenen, fertigen Bildern – aber nie werden wir selbst in der Betrachtung so richtig mit ihnen fertig, kommen zum Ende, können sie selbst in ihren vielen Schichten abschließend begreifen.
Auch eindimensionale, klischeebehaftete Vorstellungen vom Mythos Künstler zerschlägt die Malerin und bietet stattdessen eine Pluralität von Bildern und Möglichkeiten ihrer Persönlichkeit: Am Ende des Making-Of-Katalogs präsentiert sie sich in einem Raster von 30 Fotos in Passbildformat. Aufnahmen aus den letzten 30 Jahren zeigen die Malerin mal mit einer um die Nasenspitze gewickelten Haarsträhne, mal von einem berühmten Fotografen abgelichtet, oder fast unkenntlich hinter einer beschlagenen Scheibe .
Die Zusammenstellung lieferte ihr ein algorithmisches Computerprogramm per Gesichtssuche – und damit zahlreiche Versionen einer Künstlerin, die die Kunstgeschichte und ihre eigene Malerei unentwegt befragt, remixed und fortschreibt. Dabei mischt Karin Kneffel Erhabenes und Alltägliches und aktualisiert traditionelle Gattungen und Lesarten. Sie befragt ihre Bilder, um die nächste Version durch eine neue Perspektive oder Erkenntnis zu ergänzen. Manchmal adressieren ihre Smileys uns Betrachter unmittelbar, mal binden uns Kneffels Werke unbemerkt in eine komplexe Feedbackschleife ein. In Publikationen lässt uns die Malerin am Entstehen der Arbeiten teilhaben und öffnet damit einen weiteren Erlebnisraum. Bei alldem betont sie das Prozessuale ohne den Werkbegriff aggressiv in Frage zu stellen. Auch wenn sie manchmal gar droht, mit fließenden Farben ihre eigenen Bilder davon zu spülen, bleibt etwas immer an der Leinwand haften, bewahrt uns vor dem Sprung in die Tiefe der Bilder, wirft uns Betrachter auf uns zurück.
Wir werden nicht eins mit Karin Kneffels Werken, aber etwas bewegt sich.
Fast flüssig.
[i] Dr. Oetker Video-Clip: https://www.youtube.com/watch?v=pRHb4k9p7Ek [ii] Informationen zu Karin Kneffels Biographie und persönliche Perspektiven auf ihre Arbeit wurden einem eigenen Interview sowie verschiedenen öffentlich geführten Gesprächen der Künstlerin entnommen. [iii] Bei der Zwischenüberschrift handelt es um ein direktes Zitat eines Titels von Dirk von Gehlen. „Update. Eine neue Version ist verfügbar“, erschienen 2013 im Metrolit-Verlag. [iv] Dirk von Gehlen in Update. Eine neue Version ist verfügbar, Metrolit Velag, Berlin 2013, S. 80. [v] von Gehlen 2013, S. 8. [vi] Wolfgang Ulrich zit. nach von Gehlen 2013, S. 92. [vii] Dirk von Gehlen, Mash Up. Lob der Kopie, Suhrkamp, Berlin 2011. [viii] von Gehlen 2013, S. 59. [ix] von Gehlen 2013, S. 59. [x] Zur Theorie des Rhizoms siehe u.a. Gilles Deleuze, Félix Guattari, Rhizom. Aus dem Französischen übersetzt von Dagmar Berger. Merve Verlag, Berlin 1977.