Wasser in Wasser

Die Vorhänge sind Dolmetscher
für die Sprache des Windes
Walter Benjamin

 

 

Was erwartet man von dem Grab eines Dichters, der den Satz ge-schrieben hat „A thing of beauty is a joy for ever“? Ich hatte keine besonderen Erwartungen, als ich vor Jahren das Grab von John Keats auf dem römischen cimitero acattolico aufsuchte, dem „Friedhof der Unkatholischen“. Jedenfalls erwartete ich nicht, wie Tom Rip¬ley, der amoralische Held einiger Kriminal-romane von Patricia Highsmith, dort in Tränen auszubrechen über den Satz „Here lies One / Whose Name was writ in Water“, der statt des Namens auf dem Grabstein steht. Keinesfalls hatte ich jedoch erwartet, was mich dann empfing: Leicht eingesunken und in der Einfassung derangiert, war das Grab, wie auf einer Baustelle, provisorisch mit hüfthohen ro-stigen Metallspießen abgesteckt, und Flatterband umwehte das traurige Geviert, in dem auch sein Freund, der Maler John Severn beigesetzt worden ist.
Der erste Impuls war, die Schande zu fotografieren, aber auf diese Weise wäre sie nur vervielfältigt worden. Und so dachte ich auf dem Rückweg darüber nach, was in Stein gemeisselt steht, in Büchern gedruckt wird und in Wasser geschrieben ist.

Keats wollte, was seine Freunde respektierten, seinen Namen nicht auf dem Grabstein stehen haben, sondern eben nur diesen einen Satz „Here lies One / Whose Name was writ in Water“, den seine Freunde jedoch ergänzten und dabei so interpretierten, als sollte darin all der Kummer eines jung verstorbenen Lyri-kers über die üble Kritik zum Ausdruck kommen, die er in England und Schottland erfahren hatte. Das war vielleicht keine gute Idee, denn so vergiftet die Erinnerung an diese Kritiker das Andenken des namenlosen Dichters noch auf seinem Grabstein.
Wie aber könnte der Satz gemeint gewesen sein? Ist die mit Ruß geschwärzte Tinte gemeint, in der Keats seine Gedichte schrieb? Das wäre eher handwerklich gedacht, also die gattungsspezifische Pointe eines Schriftstellers. Hier würde sie aber nicht zutreffen, denn der junge Keats hatte sich bereits einen Namen gemacht, der auch in Büchern stand und also in Druckerfarbe, die man mit Wasser nicht unbedingt in eine poe-tische Verbindung bringen würde.

Oder war ein Meer des Vergessens gemeint, in dem Wasser sich auflöst wie ein Menschenleben in der Geschichte der Gattung? Das wäre nahe an der schwierigen Formel, unter die Manès Sper-ber seine bewegende Romantrilogie gestellt hat, „Wie eine Träne im Ozean“, deren Potential für kitschige Liebeserklärungen das Internet längst entdeckt und normiert hat.
Der Satz von Keats ist eindrucksvoll, weil er eine auf Dauer abzielende Geste, die des Schreibens, in Kontrast setzt zu dem in dieser Hinsicht erinnerungslosesten Medium überhaupt, der Oberfläche des Wassers, die sich gleich wieder schließt, was auch immer sie berührt haben mag.
Wer aber Bücher hinterlässt, verschwindet nicht ganz so rasch aus der Erinnerung der Nachwelt, bleibt vielmehr manchmal, wie Keats, sogar über zwei Jahrhunderte hinweg namhaft. Letztlich hat er mit diesem Satz also vielleicht nur von seinem guten Recht als moderner Künstler Gebrauch gemacht und ein Rätsel hinterlassen. Was der Satz, für sich genommen, bedeutet, das bleibt jedenfalls offen genug, um nicht nur einen Tom Ripley zu verstören.

Keats hätte natürlich angesichts der Aquarelle seines Freundes John Severn auffallen können, daß beide auf verschiedene Weise mit Wasser Dauerhaftes herstellten. Was ihm selber der Ruß im Wasser der Tinte, war für Severn das Pigment, das mit Wasser aus den Farbtiegeln gelöst wird, um für kurze Zeit darin zu schweben, bis es sich ebenfalls auf dem getrockneten Grund des Papiers festsetzt.
Man könnte jedenfalls behaupten, daß bildende Kunst und Schriftstellerei sich nirgends näher sind als gerade im Gebrauch von Wasser, denn es ist eben dessen Flüchtigkeit, die es ermöglicht, momentanen Eingebungen dauerhafte Gestalt zu geben. Wie eine Allegorie dieser Verwandtschaft ruhen Keats und Severn unter dem selben Rechteck aus Stein.
Heute schreibt man aber nur noch selten mit Tinte und Feder. Einen Füllfederhalter zu benutzen, ist geradezu ein koketter Akt geworden, der einer Mitteilung eine besonders persönliche Bedeutung geben soll. Meist liegt das gute und teure Stück aber ungenutzt herum, und die Tinte trocknet ein.

Ist es kaum mehr üblich, mit Wasser zu schreiben, so doch i-mer noch, damit zu malen. Mochte Öl auch die maltechnische Leitgattung der Neuzeit stellen, so ist das Aquarell bis heute die Talentprobe des Farbmalers geblieben, weil es, anders als Öl oder auch Acryl, keine Korrekturen vorsieht.
Karin Kneffel malt seit Jahrzehnten in Öl und in Wasser und dabei auch oft die selben Motive. Diese demonstrative Gleich-behandlung der Motive in Öl und Aquarell berührt auch ein schriftstellerisches Problem, daß nämlich ein und dieselbe Aussage nie gleich klingt, wenn sie in verschiedenen Sprachen verfasst wird: Man trifft nie den selben Wortgeschmack in den verschiedenen Texturen; jede Sprache kann das selbe nur auf eine andere Weise erzählen.
Das klingt banal, veranlaßt aber die Verzweiflung manchen Au-tors, der merkt, wie sich sein Text in der Übersetzung selbständig macht, ohne daß er es ihm untersagen könnte; wie er seinen Ton verliert, nur weil er die Sprache wechselt; wie er an Form verliert, nur weil die Übersetzerin mal wieder zu schlecht bezahlt wurde oder zu wenig Zeit hatte - a bad trans-lation is a mess forever.

Und damit sind die Probleme der Reproduktion noch gar nicht berüht, denn wie ein Gemälde in einer Fotografie entscheidende Anteile seiner Faktur verliert, so gibt jedes Buch einen poe-tischen Text ohne die Erregungskurven der Handschrift wieder, als hielte man die schwarz-weiße Fotografie eines Regenbogens in der Hand.

Bedenkt man solche Probleme der Übersetzbarkeit, ist es ver-blüffend, wie unbekümmert Karin Kneffel sich zwischen den technisch verschiedenen Gattungen bewegt: Kein Aquarell wirkt wie der Entwurf für ein Ölbild, und in manchen Katalogrepro-duktionen ihrer Bilder wüsste man die Techniken nicht auf Anhieb zu unterscheiden.
Dabei stehen die beiden Gattungen bei ihr durchaus in einem konventionellen Verhältnis zueinander: Zwar gibt es Aquarelle, die später nicht in Ölbilder übersetzt werden und damit, um ein überstrapaziertes Lieblingswort des Kunstdiskurses zu be-nutzen, „autonom“ bleiben. Aber es gibt kein Aquarell, das noch einmal ein Motiv aufgreifen würde, wenn dieses bereits in einem Ölbild behandelt worden ist.
Gleichwohl täte man sich schwer, die Aquarelle nur als Vorstu-dien zu Ölbildern zu begreifen, denn dafür sind sie zu durch-gearbeitet und oft eben auch selbstständig geblieben. Gleichermaßen möchte man Ölbilder, die nach Aquarellen gemacht worden sind, nicht als Ausführungen verstehen, denn dazu sind die handwerklichen Spielregeln zu verschieden.
Jedenfalls verhält es sich hier anders, als bei der Überset-zung eines Textes, nämlich nicht um quälende Nachempfindungen, sondern um zwei verschiedene bildnerische Präsentationen glei-cher Motive. Und wenn sie ein Motiv in beiden Techniken fest-hält, führt Karin Kneffel das Kunststück der Übersetzung ihrer figurativen Parallelwelten aus Öl und Wasser mit einer solchen Leichtigkeit vor, als sei sie gleichsam zweisprachig groß ge-worden und könnte das Problem der Übersetzung überhaupt nicht verstehen.

In einigen ihrer Bilder erkennt man Glasscheiben, die mit Feuchtigkeit wie mit einem dünnen Wasserfilm beschlagen sind, in dem ein Finger die Spur eines Striches oder den Umriss einer Figur hinterlassen hat, von dessen Rändern Tropfen ihre Bahn nach unten ziehen. Oder es schimmert ein Wort auf, als sei es tatsächlich in Wasser geschrieben worden, wenn auch nicht in das fließende, das man mit dem Satz von Keats assoziiert.
Dessen rhetorischer Trick wird sogar noch überboten, weil in den Aquarellen von Karin Kneffel das Wasser mit Wasser gemalt wird: Wenn jede Sprache das gleiche in anderer Form erzählt, so liegt eine Pointe ihrer Aquarelle eben darin, daß sie Was-ser mit Wasser malt, das dort genauso quecksilbrig und naß aussieht wie in ihren Ölbildern.
Eine solche tatkräftige Poesie des Handwerks hätte die strengen französischen Akademiker des 17. Jahrhunderts jahrzehnte-lang beschäftigen müssen, weil sie eine klare Gattungstheorie als unerlässlich für den Unterricht erachteten und dabei sehr dogmatisch zwischen Zeichnung und Aquarell sowie zwischen Ma-lerei und Bildhauerei unterschieden. Für Karin Kneffel, die an der nicht mehr ganz so strengen Münchner Akademie lehrt, haben sich solche Handwerksdogmen längst verflüchtigt, sogar das der Gattungstreue, denn sie malt ihre Aquarelle nicht stets auch wie mit Wasserfarben.
Normalerweise ist es ja gerade die Flüchtigkeit, die man in der Herstellung eines Aquarells bewundert, die rasche Ausein-andersetzung mit dem Eigensinn des Wassers auf dem Papier und dessen geschickte Nutzung für eine sichere Plazierung der Far-ben. Während es also die alla prima-Qualität eines Aquarells ist, die man der Technik zugute hält, weil sie keine direkten Korrekturen erlaubt, behandelt Karin Kneffel die Wasserfarben recht nüchtern wie Mitarbeiter, die man durchaus auch mehrmals auf die selbe Aufgabe ansetzen kann, zum Beispiel auf die, mit Wasserfarbe einen ordentlichen Wassertropfen hinzukriegen. Dann verrät sie eine gewisse Ungeduld mit dem Wasser, die man ihren Aquarellen nicht ansieht, und setzt nach, als hätte sie es mit Temperafarbe zu tun.

Wenn Karin Kneffel dabei auch auf die handwerkliche Schlüssig-keit der Oberfläche achtet, so immer weniger auf die Schönheit ihrer Motive. Über weite Strecken ihres Werkes hat sie sich vielmehr mit Interieurs und Mobiliar beschäftigt, die ihr sel-ber spießig oder gar ausgesprochen häßlich vorkommen.
Das gilt etwa für die Gruppe von Bildern, die sie als „Haus am Stadtrand“ 2009 im Krefelder Haus Esters ausstellte. Die Villa war 1930 von Mies van der Rohe für die Familie Esters gebaut worden und dient heute als Ausstellungsgebäude der Krefelder Kunstmuseen. Nach historischen Aufnahmen rekonstruierte Karin Kneffel dafür die ursprüngliche Möblierung des einstigen Wohn-glücks in dieser Villa, die in ihrer vorfabrizierten Gemüt-lichkeit so gar nicht zum modernistischen Erscheinungsbild des Gehäuses passen wollte.
Einige dieser Krefelder Dementis hat sie gemalt, als hätte sie die auffällige architektonische Inkongruenz von Form und In-halt heimlich bei Nacht beobachtet, wie eine Stalkerin, die draußen im Regen ausharrt, der sich auf den Fensterscheiben in großen Wassertropfen sammelt. Wie sich diese auf der Glasoberfläche zusammenziehen, sehen sie manchmal aus wie die Bruchstücke und Splitter eines durchsichtigen Schmucksteins, der die Optik zur Vergrösserung des Unbehagens verzerrt.
Wie sie im Verschnitt des modernem Mies-Baus mit seiner kon-servativen Ersteinrichtung die Verkantung historisch unterschiedlicher Schönheitsvorstellungen paraphrasierte, so sind es auch die gediegenen Exzesse des „Gelsenkirchner Barocks“ ihrer Herkunftsregion, des Ruhrgebiets, an denen sie sich abarbeitet, wobei sie abgemalten Fotografien solcher Interieurs auch demonstrativ mit großen Farbbalken durchstreicht, die selber wiederum wie fotografiert wirken.
So hält sie auch manch anderes ihrer Motive für banal oder peinlich, die manchem Betrachter ihrer Bilder durchaus schön vorkommen mögen - der elegant im Boden gespiegelte Beinschwung eines Chippendale-Imitats etwa, oder der querformatige Raumausschnitt eines kühl inszenierten TV-Interieurs mit violetter Steppdecke.

Stellt man sie in dieser Sache zur Rede, gibt sie gerne zu, daß ihr bei den Interieurs auch manchmal noch an schönen Din-gen gelegen ist, bei den Teppichen etwa, für die sie gelungene Beispiele fotografiert hat, etwa im ehemaligen Harem des Sul-tans im Topkapi-Serail in Istanbul. Und so malt sie durchaus auch schöne Dinge, elegante wie spröde, glatte wie textile, ornamentale wie figürliche, beiläufige wie auftrumpfende, und manche werden erst schön durch ihre Malerei, die tauige Oberfläche halbreifer Pflaumen etwa, oder das Sonnenlicht, das sich in einem Vorhang fängt, der selber gar nicht schön sein muss, um dabei aufzuscheinen.
Dabei spielen auch taktile Anmutungen eine Rolle, die sie unter ihre Farben mischt, als hätte sie für diesen Substanzübersprung ein Patent. So liefert das schwarz-weiß ausgepunktete Fell eines Dalmatiners nicht nur den grafischen Kontrast zum bunten Ornament eines Stoffmusters, sondern auch eine beinahe handgreifliche Anmutung von Fell und Flor, eine visuelle Ober-fläche, die auch die Hand des Betrachters anspricht, der Texturen zu fühlen vermeint, wo er sie doch nur sieht.
In dieser synästhetischen Aufladung der Sehlust des Betrach-ters ist offenkundig auch die Sehlust der Malerin selber zu erkennen, die man als eine produktive Lebenslust verstehen könnte. Aber seit der Krefelder Bildserie „Haus am Stadtrand“ findet sich im Werk von Karin Kneffel zunehmend auch Gespen-stisches, das über die Perspektive einer nächtlichen Stalkerin hinausgeht. So verliert im Widerspiel von durchsichtigem Glas und nächtlicher Spiegelung der Standpunkt, an dem man die Be-obachterin vermuten könnte, seine Eindeutigkeit, wozu auch die Wassertropfen auf dem Fenster beitragen und klar erkennbare Fernsehbilder, die im Nirgendwo schweben. Daß es Ausschnitte aus Filmen von Alfred Hitchcock sind, trägt zur Gemütlichkeit der Interieurs auch nicht gerade bei, die das Auge vergeblich genauer zu verorten sucht.
Auch von außen kommt es nicht so gemütlich in diese dunklen Wohnhöhlen herein, wie es das Mobiliar manchmal vorzugaukeln versucht. So lässt ein Blick durch den Türspion einen nicht genau spezifizierbaren, aber durchaus undomestiziert erschei-nenden Hund im dunklen Vorgarten erkennen. Und vor einem offe-nen Fenster beult sich ein Vorhang plötzlich im Windzug und schlägt eine Topfpflanze vom Brett, deren Blumenerde sich auf dem Boden wie Dreck verkrümelt und dessen gepflegten Bohner-glanz dementiert. So kündigt die domestizierte Natur ihre adrette Gesellschaft auf, und man fragt sich, ob es tatsäch-lich nur die Hunde sind, die Karin Kneffel so zutraulich malt, wovor sie im wirklichen Leben eine ziemliche Angst hat.

 

Walter Grasskamp