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»El sugestivo arte de Karin Kneffe«l, in: Karin Kneffel , La ventana y el espejo, Ausst.-Kat.// exhib. cat. hrsg v. museo de arte contemporaneo A Coruna, Carmen F. Rivera

 

Martin Hentschel

Karin Kneffels suggestive Kunst

Wir sind ständig dabei, Wirklichkeiten zu konstruieren. Und wir werden
veranlasst, eine davon auszuwählen, die mit den aktuellen Sinnesdaten am besten
vereinbar ist. Wenn diese Koppelung wegfällt, dann träumen oder halluzinieren wir.
Das ist eigentlich der Normalzustand.
Gerhard Roth1

 

 

Die Ordnung der Zentralperspektive

Den gewaltigen Fundus an Bildern, den die gegenständliche Malerei seit der Renaissance hinterlassen hat, betrachten wir gewöhnlich nach Maßgabe perspektivischer Darstellung. Diese verwandelt, wie Erwin Panofsky gezeigt hat, das ganze Bild gleichsam in ein Fenster, „durch das wir in den Raum hinauszublicken glauben sollen“.2 Die Zentralperspektive geht mit der Vorstellung eines homogenen und isotropen Raums einher; in ihm haben alle dargestellten Gegenstände einen festgefügten Ort. Der Angelpunkt dieser Raumvorstellung ist das unbewegliche Auge des Betrachters. Jahrhunderte lang hat diese Ordnung der visuellen Erscheinung die Malerei geprägt. Dass sie nach wie vor unsere Bilderfahrung dominiert, liegt vor allem an der ubiquitären Gegenwart fotografischer Bilder; in der Bündelung des Lichts durch das Objektiv der Kamera gelangte die perspektivische Systematik zu technisch makelloser Präsenz.
Auf der anderen Seite hat die Malerei schon frühzeitig mit der mathematischen Raumkonstruktion gebrochen. Der Manierismus etwa – denken wir an Gemälde von Pontormo, Parmigianino oder El Greco – widerspricht der Auffassung eines homogenen Raums und der empirischen Wahrnehmung gleichermaßen: Körper werden zerdehnt, Figuren scheinbar willkürlich vergrößert oder verkleinert, und die luminöse Farbigkeit einzelner Bildpartien schafft Räume, die unserer Alltagserfahrung diametral entgegenstehen. Genau besehen wird die Geschichte neuzeitlicher Malerei permanent von derartigen Widerständen gegen den Einflussbereich zentralperspektiver Raumvorstellung begleitet. Im 20. Jahrhundert ist es vor allem der Surrealismus, der unter Beibehaltung gegenständlicher Darstellung die klassische Perspektive aus den Angeln hebt.

Feuer: „Bildwerdung von Wirklichkeit“

Wenn wir uns der Malerei Karin Kneffels zuwenden, so fällt sofort ihre veristische Detailversessenheit ins Auge. Auf den ersten Blick erscheint sie mit jener Detailtreue verwandt, die uns aus der Farbfotografie so geläufig ist. Tatsächlich benutzt die Künstlerin Fotografien als Bildvorlagen. Sie werden jedoch nie direkt auf die Leinwände projiziert; vielmehr dienen sie allein dazu, sich der Glaubhaftigkeit des Dargestellten zu vergewissern. Was aber dann beim Übertragen in das gemalte Bild geschieht, dekonstruiert die Homogenität fotografischer Ästhetik. Kneffels riesiges, über sieben Meter Länge messendes Feuerbild von 1996 (Abb. 1) ist wesentlich maßstabslos, so realistisch es auch anmuten mag. Der Bildraum ist auf lediglich zwei Ebenen reduziert, die des Stapels flammender Holzscheite und die des rauchgeschwärzten Himmels. Die Stofflichkeit der Flammen ist der Stofflichkeit des Himmels verschwistert. Überdies ist das Gemälde in vier Bildkompartimente geteilt, und die Künstlerin legte wenig Wert darauf, die Übergänge zwischen den Paneelen nahtlos zu verschmelzen. Gerade an diesen Stellen, wo die Bildteile aufeinanderstoßen und ebenso visuelle Anschlüsse wie Zäsuren hervorbringen, zeigt sich das Inkommensurable der Malerei. In seinen verhaltenen Widersprüchen gegenüber der Alltagswahrnehmung gibt das Gemälde eine Antwort auf die Frage, wie man etwas so Flüchtiges wie Feuer in eine malerische Form gießen kann, die visuell glaubwürdig ist und dennoch ihre Materialität nicht verschweigt. Das führt die Künstlerin in Ihrem Feuerbildern exemplarisch vor. Sie alle leben von dem leicht pastosen Farbrauftrag, der den Illusionismus teilweise aufhebt und die Farbe als solche zur Geltung bringt. Wichtig ist aber auch – und das macht sie zeitgenössisch – , dass diese Gemälde frei von Metaphysik sind. Es geht nicht etwa darum, eines der vier Elemente in seiner Entfesselung zu zeigen, wie das noch bei William Turner der Fall war, noch darum, das Feuer als kurioses Naturspektakel darzustellen, wie etwa bei den Ansichten des Vesuvs von Jakob Philipp Hackert oder Johan Christian Clausen Dahl. Vielmehr geht es, wie Daniel Spanke es ausgedrückt hat, um den „Prozess der Bildwerdung von Wirklichkeit“.3

Trauben: Ein malerischer Exzess

Nicht von ungefähr hat sich Karin Kneffel im Laufe ihrer künstlerischen Entwicklung oft Sujets angenommen, die traditionell von der Genremalerei besetzt waren: Landschaften, Tierbilder, Stillleben, Interieurs. Eben weil sie eigentlich abgenutzt waren, bargen sie am wenigsten Modelle der Weltdeutung – das, was man der Malerei über Jahrhunderte abverlangt hatte. Im selben Maße, in dem die Sujets verbraucht waren, konnten sie für die Künstlerin zum Gegenstand ureigener malerischer Auseinandersetzung werden. Das scheinbar Altbekannte und Alltägliche so sehen zu lassen, als begegneten wir ihm zum ersten Mal, ist ein der wesentlichen Antriebe für die Kunst Karin Kneffels, und das geschieht bei ihr ohne jegliche metaphysische Überhöhung.
Betrachten wir die beiden diptychonartigen Gemälde mit buntfarbenen Weinbeeren aus dem Jahr 2004 (Abb. 2-3). Allein die schiere Größe der Früchte übertrifft alles, was wir von einem Stillleben erwarten würden. Zwar geht die Darstellung jeder einzelnen Frucht mit dem Erinnerungsbild ‚Weinbeere’ konform, doch das Konglomerat als Ganzes widerspricht ebenso unserer Erfahrung wie der eines fotografischen Blow-up. Nicht nur werden Früchte in allen denkbaren Stadien der Reife zusammengespannt, auch ihre plastische Gegenständlichkeit springt derartig ins Auge, dass man nicht anders als von einem malerischen Exzess sprechen kann. Dazu gehört, dass das Traubengebilde die Bildränder mit Verve überschneidet – als sei das Bildformat nie groß genug, um den Inhalt zu fassen. Aber selbst in dem früheren Gemälde von 1998 (Abb. 4), das eine einzelne Traube formatfüllend in Szene setzt, übersteigt die Bildrealität die gewöhnliche Wahrnehmung bei weitem. Das zeigt sich besonders, wenn wir Kneffels Arbeit einem klassischen Stillleben gegenüberstellen. Ein undatiertes Gemälde von Louis-Leopold Boilly (1761-1845) zeigt eine Traube mit weißen Beeren, die an einem Wandhaken hängt (Abb. 5). Insofern, als der Künstler bemüht war, die Leinwand mit der gemalten Wand gleichzusetzen (der Schatten der Traube fällt auf die Wand), ist das Bild ein Trompe-l’œil. Dementsprechend bleibt das Format (25 x 20 cm) auf die Größe einer realen Traube beschränkt. Abgesehen von der eklatanten Vergrößerung, die Kneffels Werk auszeichnet, ist ihre Traube in einen Bildraum gebettet, der zwischen Flachheit und unbestimmter Tiefe oszilliert. Aus diesem Dunkelraum leuchten die Beeren hervor, als führten sie ihr eigenes Licht mit sich. Während also Boilly mit Mitteln der Malerei den Betrachter glauben machen möchte, er habe es mit wirklichen Trauben zu tun, inszeniert Kneffel umgekehrt eine Darstellung, die alle Mittel aufbietet, um die Malerei als Medium eigener Wirklichkeit hervorzuheben.

Spiegel und Intarsie

Dreimal läuft der Hund durch das Bild (Abb. 6-8). Im Jahr 2004 malt Kneffel eine Art dreifacher Versuchsanordnung zur Wirkung von Raum und Fläche, Ornament und Bild. Auch wenn ihr das Denken in Metaphern fremd ist: Im mittleren Bild verkörpert dieser Hund, der an der Bordüre des Teppichs entlang läuft, geradezu den schmalen Grat, den die Malerei selbst beschreitet. Eine Malerei, die sich illusionistisch gebärdet und zugleich auf dem Absprung in die Gegenstandslosigkeit befindet. Eine Malerei, die sich zwischen festgefügtem Ornament und viskosem räumlichen Fluidum bewegt, Spiegelbild und Intarsie in eins. Schon 2003 erprobte die Künstlerin die Wirkungsweise von Ornament und Gegenstand, indem sie Teppiche, die sich über den gesamten Bildraum ausbreiten, mit lebenden oder ausgestopften Tieren besetzte (Abb. 9). Im Gefolge jener beschriebenen Versuchsanordnung geht sie einen Schritt weiter und konfrontiert Gegenstände mit gänzlich spiegelnden Flächen, wie etwa in dem Gemälde mit einem Rokokotisch (2005, Abb. 10), dessen Spiegelung denselben Realitätsgrad besitzt wie der scheinbar reale Gegenstand.
Als Kneffel 2007 eine Serie von Bildern malt, die jeweils den Blick in den nächtlichen Außenraum vergegenwärtigen, gelingt ihr etwas, das sie zuvor nur ansatzweise thematisiert – etwa in jenen Gemälden, die Ausblicke durch ein gemaltes Gitter zu erkennen geben (z. B. Ohne Titel, 1997, Abb. 11) Dort verwandelte sie die Bildoberfläche in jenes offene Fenster zurück, das seit Alberti als Metapher des zentralperspektivisch angelegten Bildes gilt. Doch während die Idealform dieser Bildlichkeit die Malfläche vollständig negiert, wird sie bei Kneffel mit dem gemalten Gitter identifiziert. 2007 vollzieht sich also eine weitere Modifikation der Bildlichkeit, indem die Malfläche virtuell ein Stück weit ins Bild hinein gerückt wird – in Form von Fensterscheiben.4 Der transparenten Erscheinungsweise kommt zugute, dass die Künstlerin im Laufe der Zeit mehr und mehr dazu übergegangen ist, die Farbe in dünnen Lasuren mit bis zu vier Schichten aufzutragen, so dass ihre Textur kaum noch erkennbar ist. Fortan gibt es Dinge, die sich vor und hinter der Glasscheibe befinden. Die Glasscheibe respektive virtuelle Bildfläche wird überhaupt erst sichtbar gemacht durch die Spiegelung der Dinge, die sich räumlich davor befinden. In einigen Gemälden haben die Dinge vor den Scheiben folglich eine höhere Präsenz und malerische Dichte als jene dahinter.

Der Voyeur und seine Halluzinationen

Doch auch diese Unterscheidung wird hinfällig, als die Künstlerin beginnt, die Realitätsgrade der Gegenstände vor und hinter den spiegelnden Glasscheiben miteinander zu verschleifen. Virtuos wird das etwa in dem zweiteiligen Bild vorgeführt, das sie anlässlich ihrer Ausstellung Haus am Stadtrand im Museum Haus Esters, Krefeld, gemalt hat (2009, Abb. 12). Der Ausblick auf das Geäst des nächtlichen Gartens, das sich zugleich als Schatten in den weißen Vorhängen abzeichnet, ist darauf angelegt, den Betrachter über das Gesehene und über den eigenen Standort im Ungewissen zu lassen. Hier kommt zur Anschauung, was Jean-Paul Sartre einst über den Blick gesagt hat: „Was am häufigsten einen Blick manifestiert, ist sicher das Sichrichten zweier Augäpfel auf mich. Aber er ist ebensogut anläßlich eines Raschelns von Zweigen, eines von Stille gefolgten Geräusches von Schritten, eines halboffenen Fensterladens, der leichten Bewegung eines Vorhangs gegeben.“5
Noch schärfer wird die Rolle des beobachteten Voyeurs in jenen Gemälden konturiert, die Blicke von außen in die privaten Räume des Hauses Esters ermöglichen – Blicke, die durch regenbenetzte Fensterscheiben wandern (Abb. 13). Indem Kneffel nämlich nicht die gegenwärtige, als Museum genutzte Villa ins Auge fasste, sondern ihren Zustand um 1930, unmittelbar nach der Errichtung durch den Baumeister Mies van der Rohe, versetzt sie den Betrachter unweigerlich in die Rolle des Voyeurs. So gesehen nimmt sie den Faden auf, den der US-amerikanische Künstler Eric Fischl seinerzeit am selben Ort auslegte. In seiner Bilderserie The Krefeld Project machte Fischl 2003 das gesamte, mit modernistischem Mobiliar bestückte Haus Esters zur Folie einer scheiternden Paarbeziehung. Die Serie spielt nicht minder mit dem Betrachter als Voyeur. Daher verwundert es nicht, dass Kneffel im Nachklang zu ihrer eigenen Ausstellung in Krefeld eine Hommage an eines der Bilder aus der Serie des amerikanischen Kollegen realisiert (2011, Abb. 14). Dabei wählt sie das Werk aus, das die meisten Bildzitate anderer Künstler enthält. So sehen wir jenes desolate Liebespaar vor einer Wand (die die entsprechende Wand im Haus Esters darstellt), auf der Werke von Gerhard Richter, Andy Warhol und Bruce Nauman hängen. In diesem Fall rekurriert Kneffel jedoch auf die aktuelle Museumssituation: Sie fügt zwei Besucherinnen ein, die wiederum das Gemälde von Fischl betrachten. Unterdessen wird die Betrachtung dadurch verdoppelt, dass wir die Szenerie von außen durch eine Fensterscheibe hindurch anschauen. Das Glas ist übersäht mit Fingerspuren und Flecken, die das Raumgefüge verunklären. So kommt es, dass die beiden Besucherinnen unversehens in die Paarszene von Fischl involviert werden – nicht bloß als Betrachterinnen, vielmehr als Komplizinnen. Sind sie womöglich – auf eine magische Weise die ästhetische Grenze überspringend – die Objekte der Begierde, die jene Paarbeziehung kollabieren ließ? Die feinen Nuancen, mit denen Kneffel die Farbigkeit des Gemäldes von Fischl in ihren Bildraum hinein verlängert, gibt dieser Halluzination zusätzlich Nahrung. Wir haben es mit einem Vexierspeil zu tun, das nicht wenig an die Vexierspiele erinnert, die im traditionellen Trompe-l’œil, aber auch im barocken Kirchenraum mit seinen unwägbaren Passagen zwischen Skulptur und Malerei ausgetragen wurden: Was ist gemalt, was real, und wo sind die Übergänge dazwischen? Kneffel vergegenwärtigt diese Fragen im Modus einer Bildrealität, in der verschiedene Ebenen und Räume – und damit verschiedene gedankliche und psychologische Vorstellungen – gezielt vernetzt werden.

Bildmagie und objektiver Zufall

Überraschenderweise evoziert dieses Spiel jenes magische Denken, von dem oben die Rede war. Überraschend deshalb, weil die kunsthistorische Rezeption jüngst hervorgehoben hat, Kneffels Kunst liege in der Betonung von Oberflächen. Dabei inszeniert die Künstlerin schon in früheren Arbeiten jenen magischen Aspekt. Denken wir an die drei panoramaartigen Formate aus den Jahren 2004/2005, in denen jeweils ein Fernsehbild das Hauptmotiv in einem Schlafzimmer darstellt. (Abb. 15-17) Hier geschehen auf unerklärliche Weise Übersprünge von den Bildschirmen auf das übrige Interieur. Einmal hat es den Anschein, als sei der Tiger, dessen Fell neben dem Bett liegt – dessen Augen und Maul indes weit aufgerissen sind – , eben durch das Gewehr erlegt worden, das in der Fernsehszene zu sehen ist. Ein andermal finden wir neben dem Bett einen zerborstenen Tonkübel, eine Pflanze und Erde verstreut auf dem Boden, als stünde dieses Malheur in geheimer Verbindung mit der Gewaltszene im Fernsehgerät. Ein drittes mal sehen wir im Film einen Schläfer liegen, während daneben im Zimmer ein Couchtisch wie von Geisterhand aufgehoben in der Luft zu schweben scheint. Wer also träumt? Alle drei Szenen sprechen dem virtuellen Bild eine magische Funktion zu. Sie deuten auf jene Urängste, die selbst den Erwachsenen – etwa beim Anblick eines Horrorfilms – überkommen können: Das unheimliche Gefühl, die Gestalten aus dem Bildschirm könnten womöglich in den Raum des eigenen Körpers hinübertreten und von ihm Besitz ergreifen.7
Es gibt ein Gemälde von René Magritte, das solche Ängste äußerst beklemmend vor Augen führt. Les jours gigantesques (1928, Abb. 18) – eine von mehreren Versionen des Themas – zeigt eine nackte Frau mit langem schwarzen Haar, die verzweifelt etwas von sich fernzuhalten sucht. Doch dieses Etwas hat sich bereits ihres Körpers bemächtigt, es ist im buchstäblich eingeschrieben: Ein Mann, von hinten gesehen, greift begierig nach ihrem Oberschenkel. Die Paranoia wird dadurch so unheimlich, dass Magritte von diesem Mann nur zu sehen gibt, was in die Körperkontur der Frau hineinpasst. Und er schwärzt den Angreifer weitgehend, so dass er sich wie ein Schatten über den weiblichen Körper legt.
Die Zwangsvorstellung, die Karin Kneffels Fernsehbilder ausstrahlen, fällt zweifellos verhaltener und weniger drastisch aus. Dennoch tragen diese Gemälde ein Stück davon in die Gegenwart, was der Surrealismus „objektiven Zufall“ (hasard ojectif)8 nannte: die Aufladung eines Geschehens durch Begehren, Wünschen oder Angst. Solchermaßen entsteht zwischen Subjekt und Objekt ein Dialog, der „die Grenzen zwischen dem Geistigen und dem Materiellen verwischt.“9 Solche Grenzverwischungen erfahren wir in den genannten Werken.
Kneffel nimmt diese Art Bildmagie 2009 und dann erneut 2012 wieder auf, als sie die Räume des Hauses Esters aus der Perspektive einer von Regen durchpeitschten Nacht malt (Abb. 19). Der Blick des Voyeurs wird nicht nur durch das gegenüberliegende, offene Fenster gestört; fast im Fluchtpunkt des Bildes begegnet ihm auch ein anderer Blick in Form einer kleinen Person, die in einem Schwarz-Weiß-Foto zugegen ist. Es spricht für den magischen Charakter der Szene, dass Kneffel hier abermals jenen zerborstenen Pflanzenkübel aus dem Fernsehbild von 2004 als Versatzstück einsetzt. Man könnte dieses Detail in Zusammenhang mit dem offenen Fenster auch als Vorausschau lesen – Vorahnung eines gewaltsamen Übergriffs, bei dem den Voyeur seine Warteposition verlässt. Besonders irritierend ist dabei, dass die Künstlerin sowohl die Voyeurhaltung als auch die des potenziellen Eindringlings in die Perspektive des imaginierenden Bildbetrachters hineinverlegt.

Die Träumerin und ihre Obsessionen

Vermutlich ist es diese Form von suspense, die Kneffel dazu geführt hat, in ihren jüngsten Werken immer wieder Szenen aus Filmen von Alfred Hitchcock einzuflechten. Doch schon ohne diese Bildmontagen strahlt die sechsteilige Bilderserie (2012-2013, Abb. 20-25), die bei Dämmerlicht gesehen um ein stereotypes Haus aus dem Ruhrgebiet kreist, eine gespenstische Atmosphäre aus. Als die Künstlerin die Bildvorlage für das Haus suchte und fand, begab sie sich in die Gegend, in der sie aufgewachsen ist. Insofern spielen hier auch Kindheits- und Jugenderinnerungen eine Rolle. Daher geht die malerische Perspektive auch stets vom Nachbarhaus aus – von innen nach außen durch die geschlossene Fensterscheibe hindurch. Ein wiederkehrendes Indiz dafür ist ein Strauß Tulpen, der sich mehr oder minder in den Scheiben spiegelt. Er verleiht den Ausblicken, so spukhaft sie auch wirken, eine gewisse Behaglichkeit. Hier wird die Behaglichkeit der Träumerin aufgerufen, die vom geschützten Residuum aus ihre Sinne und Gedanken schweifen lässt. In den Schattenspielen, die der benachbarte Baum auf der nächtlich erleuchteten Hauswand hinterlässt, mag sie figürliche Konfigurationen entdecken, die aber sogleich vom nächsten Windstoß verwischt werden.
Der Blick fällt auf Doris Day, die mit hellblauer Bluse bekleidet auf hellblauem Kissen ruht.10 Vielleicht ist es diese Haltung, die auch die implizit gedachte Fernsehzuschauerin einnimmt. Für die Träumerin gehen Innen und Außen im letzten Abendlicht nahtlos ineinander über. In einem anderen Gemälde der Serie sind es drei Gesichter aus Hitchcocks Film Sabotage (1936), die die nächtliche Szene lebendig werden lassen. In der Schwebe zwischen Lachen und Erstarren, kaltblau wie der wolkige Himmel, lassen diese Gesichter die Stimmung deutlich ins Unheimliche kippen – und selbst die Darstellung der Tulpen scheint davon affiziert zu werden. Hier kommt jener angstbesetzte Augenblick zum Tragen, der aus der magischen Beziehung zwischen Innen- und Außenraum, virtueller und realer Welt entsteht.
Die Obsession erreicht ihren Höhepunkt, wo sich mit dem Blick nach draußen der Abdruck zweier Hände auf der Fensterscheibe abzeichnet.11 Nicht von ungefähr fehlen gerade hier die Tulpen, die in den übrigen Bildern einen Abwehrzauber ausüben. Ohne diese apotropäische Funktion nimmt die Bildlichkeit vollends den Charakter einer Halluzination an. Im zweiten Weltkrieg warfen britische Bomber während eines Luftangriffs über Hamburg Millionen von kleinen Bündeln aus Stanniolstreifen ab, die die Radarschirme des deutschen Gegners mit ‚falschen’ Reflexen überfluteten.12 Eine friedliche Version dieser Bildstörung wird heutzutage in Fußballstadien praktiziert, wo bei der Siegesfeier goldene Kunststoffstreifen von den Stadiondächern auf die Zuschauer herabsegeln und sich auf den Fernsehschirmen flimmernd verdichten.13 Etwas von dieser frei schwebenden Lumineszenz, unter der sich räumliche Verhältnisse zu verwirrenden Reflexen dissoziieren, hat sich auch in Kneffels Zwielicht eingenistet. Auf der anderen Seite wird das halluzinative Moment dadurch beschwichtigt, dass das Licht, das sich in den Ästen und Blättern der umgebenden Bäume verfangen hat, an jene milden Lichtstimmungen erinnert, die wir etwa aus den Gemälden von Albrecht Altdorfer kennen. Gegen das Unheimliche verströmt das Gemälde auch diese Stimmung, die wir in alten Landschaftsdarstellungen wiederfinden.

Hitchcocks Vorhang und die diaphane Bildfläche

Die Auflösung des perspektivischen Bildraums in ortlose Spiegelungen und Reflexe beschäftigt Karin Kneffel in jüngster Zeit des Öfteren. Nicht nur die erwähnte Hommage an Fischl zehrt davon, auch jenes großformatige Werk von 2013 (Abb. 26), das ein Standbild aus der Produktion zu Hitchcocks Film Torn Curtain (Der zerissene Vorhang, 1966) zur Vorlage hat. Während der Hauptdarsteller Paul Newman die Szene betritt, entfaltet sich um ihn herum ein seltsames räumliches Gespinst, das vom Kameramann, von diversen Putzfrauen und weiteren Personen am Set bevölkert wird. Alles, was im Bild geschieht, geschieht im Licht einer Aura von unwägbaren Reflexen. Der Regisseur selbst ist bloß indirekt, durch den Abdruck seiner erhobenen Hände, präsent – jenes Abdrucks, der uns schon beim Anblick des Hauses im Dämmerlicht ins Auge fiel. Verblüffend ist, wie sehr der Bildaufbau dem des berühmten Gemäldes Las Meninas (1656) von Velasquez ähnelt. Diesem Werk wiederum hat die Künstlerin bereits 2010 eine eigenwillige Interpretation abgerungen (Abb. 27).
Als Kneffel 2012 im Hinblick auf eine Ausstellung in New York das legendäre Restaurant Four Seasons als Sujet für sich entdeckt, nimmt sie das Motiv der Wassertropfen aus der Serie für Haus Esters wieder auf. Und auch hier verwandelt sie das Ambiente mittels goldfarbener Tropfen, die losgelöst von einer Glasscheibe frei im Raum tanzen, in ein Traumgebilde aus Lichtern und Reflexen (Abb. 28). In einer anderen Version (Abb. 29) fügt sie einen vielfarbigen, transparenten Schleier hinzu, der die räumlichen Gegebenheiten ins Surreale wendet. Der Schleier lässt an Albert Schrenk-Notzings Experimente mit Personen denken, die im Trancezustand „Ektoplasma“ ausströmen.14 Ähnlich erleben wir den Bildraum wie in Trance verfangen. Die einzige Gestalt, die sich schemenhaft aus diesem Ambiente herauslöst – ein Kellner – erscheint eher einer Halluzination entsprungen als dem realen Raum zugehörig.
Das Four Seasons ist Bestandteil des Seagram Building, das Mies van der Rohe in Zusammenarbeit mit Philip Johnson entwarf und 1958 fertigstellte. Als das Team dem Bauherrn einen beigefarbenen Teppich für das Restaurant vorschlug, wurde dieser zunächst mit der Begründung abgelehnt, dass Butterflecken zu sehen sein würden. Johnson soll daraufhin geantwortet haben: „Butter never crossed my mind“, und setzte seine Teppichfarbe durch; sie wurde allerdings inzwischen durch ein gemustertes Blau ersetzt.15 Kneffel verwendet den Satz von Johnson in einer weiteren Bilderserie (Abb. 30-31), die Ausblicke in den Garten ihres Ateliers zeigt, und in diesem Zusammenhang darf der Ausspruch zweifellos als ein Votum für künstlerische Freiheit gelesen werden. Dabei transponierte Kneffel den Namen des Restaurants in die realen vier Jahreszeiten, unter der sich ihr Garten darbot. Der Besondere dieser Gemälde besteht darin, dass wir die Gartenlandschaft jeweils durch eine milchige, dampfgeschwängerte Fensterscheibe anschauen, die nur innerhalb des Schriftzugs scharf gezeichnet ist. Darüber hinaus tauschte die Künstlerin den Schriftzug in einigen Bildern der Serie gegen ein diagonales Kreuz, das sie wiederum einem ihrer früheren Bilder aus der Esters-Serie entnahm (Abb. 32-34).16
Beide Varianten thematisieren erneut die Doppelwertigkeit der Malfläche, zum einem im Sinne von Albertis „offenem Fenster“, zum anderen als Ebene, mit Farben bedeckt. Diese Ebene aber wird von Kneffel – das zeigen gerade diese neuen Arbeiten – als strukturell diaphan aufgefasst. Man kann auch sagen, sie ist osmotisch angelegt, durchlässig nach hinten wie nach vorne. So gesehen schreibt Kneffel jene Experimente mit diaphanen Räumlichkeiten fort, die Francis Picabia und Sigmar Polke je auf ihre Weise ins Bild gesetzt haben. In der Darstellung eines Kinosaals, über dessen Leinwand mit dem Schriftzug „The End“ sich gerade ein blaugrüner Vorhang schließt (Abb. 35), erleben wir die diaphane Bildfläche in nuce: Nicht nur betrachten wir die Zuschauer des Films, sie betrachten auch uns als Zuschauer durch die transparente Bildfläche hindurch. Das Gemälde ist zu beiden Seiten der Leinwand offen.

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1„Die Welt, in der wir leben ist konstruiert.“ – Ein Gespräch mit dem Hirnforscher Gerhard Roth, in: Frankfurter Rundschau, 12. September 1992.
2 Erwin Panofsky, „Perspektive als ‚symbolische Form’“, in: Ders., Aufsätze zu Grundfragen der Kunstwissenschaft. Hrsg. v. H. Oberer und E. Verheyen. Berlin 1974, S. 99.
3 Daniel Spanke, „Realismus ist anders: Distanz, Serie und Ornament als künstlerische Strategien im Werk von Karin Kneffel“, in: Kat. Ausst. Karin Kneffel, hrsg. von Achim Sommer, Kunsthalle in Emden; Köln 2001, S. 12.
4 Vgl. Kat. Ausst. Karin Kneffel. Looking Glass. Städtische Galerie Offenburg, Galerie Gerrit Friese 2008, Abb. 78, 80, 82, 84.
5 Jean-Paul Sartre, Das Sein und das Nichts. Versuch einer phänomenologischen Ontologie, hrsg. von Traugott König. Deutsch von Hans Schöneberg und Traugott König. 18. Aufl. 2014, S. 465 (frz. Originalausgabe Paris 1943, S. 315).
6 So Stephan Berg, „Nachtschattengewächse“, in: Kat. Ausst. Karin Kneffel: 1990-2010, hrsg. von Daniel J. Schreiber, Kunsthalle Tübingen; Ostfildern 2010, S. 12: „Zum anderen strahlt auch die Malerei selbst eine komplex getunte, hochgezüchtete Oberflächenaura aus, die jeden Versuch, in sie einzudringen, an ihrem makellosen Malereipanzer abprallen lässt.“
7 Eine derartige Wirkung mit tödlichen Folgen zeigt etwa der japanische Horrorfilm Ringu (1998) bzw. die US-amerikanische Version The Ring (2002). In David Cronenbergs Film Videodrome (1983) finden wir laufend halluzinatorische Übertritte zwischen dem Realraum und dem des Fernsehgeräts.
8 André Breton, der den Begriff geprägt hat, definiert ihn als „recontre d’une causalité externe et d’une finalité interne“, als „Zusammentreffen von äußerer Kausalität und innerer Finalität“. (André Breton, L'Amour fou. Paris 1937, S. 23.) Dergestalt werden zufällige Ereignisse vorausschauend als notwendig eintreffende Ereignisse begriffen.
9 Gisela Steinwachs, Mythologie des Surrealismus oder die Rückverwandlung von Kultur in Natur. Eine strukturale Analyse von Bretons „Nadja“. Neuwied und Berlin 1971, S. 53 - 54.
10 Die Szene stammt aus den Film The Man Who Knew Too Much (Der Mann, der zuviel wußte, 1956) von Alfred Hitchcock. Die Aufschlüsselung sämtlicher Bildzitate verdanke ich Karin Kneffel.
11 Diese Hände sind einem Making-of-Foto entlehnt. Kneffel zeigt Hitchcock in einem anderen Gemälde der Serie in eben dieser Haltung mit erhobenen Händen gegenüber der Protagonistin Julie Andrews bei der Produktion des Films Torn Curtain (Der zerissene Vorhang), 1966.
12 Vgl. Brian Johnson, Streng geheim. Wissenschaft und Technik im zweiten Weltkrieg, Augsburg 1995.
13 Jüngst zu sehen z. B. bei der Siegerehrung des DFB-Pokalfinalspiels Borussia Dortmund : Bayern München in Berlin am 17. Mai 2014. Vgl. auch das entsprechende Foto in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 19. Mai 2014, S. 25.
14 Albert Schrenck-Notzing, Materialisationsphänomene, München 1914. Siehe auch Kat. Ausst. Im Reich der Phantome. Fotografie des Unsichtbaren. Städtisches Museum Mönchengladbach u. a; Ostfildern-Ruit 1998.
15 Diese Informationen verdanke ich Karin Kneffel.
16 Ausführlich dazu: Martin Hentschel, „Osmose zwischen Räumen und Zeiten“, in: Kat. Ausst. Karin Kneffel. Haus am Stadtrand, hrsg. von Martin Hentschel, Museum Haus Esters, Krefeld; Ostfildern 2010, S. 17 ff.