Zurück nach vorn

Ein Gespräch zwischen
Karin Kneffel und Daniel J. Schreiber

Daniel J. Schreiber_ Sie wurden 1957 in Marl geboren, einer kleinen, von Chemieindustrie und Kohlebergbau geprägten Stadt im nördlichen Ruhrgebiet. Die Luftlinie von hier zum Entstehungsort des Gelsenkirchener Barocks beträgt etwa 11 Kilometer. Zeugen die Teppiche, Tapeten, Gardinen und Möbel, die wir in Ihren Interieurbildern finden, von diesem kulturellen Einflussbereich?

Karin Kneffel_ Ein gravierendes Zeugnis dieses kulturellen Einflussbereichs ist meine »immerwährende barocke« Liebe zu Schalke 04. Diese spezielle Möblierung, von der Sie sprechen, Sie nennen sie »Gelsenkirchener Barock«, wir nannten sie auch »Jugendstil der Bergarbeiter«, ist mir sehr nah und fern zugleich. Sie ruft bei mir eine gewisse Wehmut und Beklemmung hervor. Keiner mag dieses Mobiliar. Seine intellektuelle Geringschätzung ist einhelliger Konsens, ebenso wie auf der anderen Seite das klassisch moderne Mobiliar des Bauhauses einhellig unumstritten ist. Mir gefällt es, dass auch solche Gegenstände auf der Leinwand ein Fluidum bekommen können, welches sie über ihre Normalität erhebt und zu einem Seherlebnis werden lässt. So kann auch dieses gering geschätzte Kulturgut Eintritt in die Kunst verschaffen.

DJS_ In manchen Ihrer Bilder nistet das Aroma der Nachkriegsjahrzehnte, bei dem Blick aus dem Hochhausfenster etwa (Kat. # 136, S. 64–65). Spielen Kindheitserinnerungen bei der Motivwahl für Ihre Gemälde eine Rolle?

KK_ Eher nicht, dazu erinnere ich mich an zu wenig. Da fällt mir höchstens meine ebenfalls noch »immerwährende« Angst vor Hunden ein. Auf meinen ersten Hundebildern trugen sie übrigens noch Maulkörbe. Bei Erinnerungen interessieren mich eher die unwillkürlichen Erinnerungen, die mit Emotionen gepaart sind und keine Distanz zum Erinnerten zulassen. In diesem Zusammenhang fällt mir Marcel Prousts Auf der Suche nach der verlorenen Zeit ein.

DJS_ »In Swanns Welt«, dem ersten Teil der Suche, berichtet der Icherzähler, wie der Geschmack eines in Tee aufgeweichten Stückchens Madeleine die Ahnung eines lange vergangenen Glücksgefühls in ihm wach werden lässt. Immer wieder versucht er, mit derselben Rezeptur seinem Gedächtnis auf den Grund zu gehen. Doch bei jedem Bissen von dem muschelförmigen Sandtörtchen, bei jedem Schluck Tee ermattet seine Erinnerungskraft mehr und mehr. Erst im Zustand völliger Leere kann er sich den frischen Geschmack des teegetränkten Gebäcks wieder vergegenwärtigen, und dann steigt sie aus großen Tiefen seines Innern empor, die Erinnerung. Steht der muschelförmig auf den Teller gestürzte Schokoladenpudding in einem Ihrer Gemälde (Kat. # 79, S. 85) etwa für ein solch unmittelbar sinnliches Nacherleben von Vergangenem?

KK_ Wir können kein Ding so sehen, wie es ist, sondern wir sehen immer die Vorstellung, die wir von den Dingen haben. Ich hatte dieses Bild des Schokoladenpuddings im Kopf und habe dann beim Malen versucht, ihn mit neuen Augen zu sehen und die eigene subjektive Empfindung erst einmal außen vor zu lassen, wie ein Marsmensch, der noch nie einen Schokoladenpudding gesehen hat. Das Ganze erschien mir durch eine Verrückung der alltäglichen Wahrnehmung in einem neuen, ungewohnten Licht – bei gleichzeitigem Aufflackern von Erinnerung im Gegenwärtigen. Wie funktionieren menschliche Wahrnehmung und Erinnerung, durch welche Fäden sind Vergangenheit und Gegenwart miteinander verwoben? Solche Fragen stellten sich mir auch bei meinem Werkzyklus Haus am Stadtrand, den ich für das Haus Esters in Krefeld gemalt habe.

DJS_ Bei den Bildern für das Haus Esters greifen Sie
jedoch auf Motive zurück, die Sie aufwendigen Bildrecherchen zu verdanken haben. Sie haben das teilweise
etwas plüschige Originalinterieur der Familie Esters aus dem Jahr 1930 in den Mies-van-der-Rohe-Bau hineinkomponiert. In zwei Bildern haben Sie darüber die halbtransparente Spiegelung einer Möblierung mit Lampen und Sesseln von Lilly Reich und Ludwig Mies van der Rohe
gelegt, die dem Bau stilistisch eigentlich weit mehr gerecht wird (Kat. # 140, S. 120–121). Sie überlagern Faktisches mit Fakultativem, bringen den Unterschied zwischen historischer Wahrheit und historischer Möglichkeit zum Verschwimmen. Dieser wohl kalkulierte Schabernack scheint mir doch eher das Ergebnis harter Erinnerungsarbeit zu sein – also geradezu das Gegenteil einer sinnlich evozierten Erinnerung. Und doch geht von den Bildern eine unmittelbare Wahrheitspräsenz aus, die dem Betrachter ein blitzartiges Déjà-vu-Erlebnis beschert. Ist es das, was Sie
erzielen wollen: eine Verquickung des Möglichen mit dem Wahrscheinlichen?

KK_ Erzielen hört sich viel zu sehr nach Kalkül an. Das Bild mit Lilly Reichs Stuhl, von dem Sie sprechen, gehört zu den ersten Arbeiten der Serie. Es wiederholt den Blick von draußen nach drinnen und gibt eigentlich nur wieder, wie es mir ergangen ist, als ich mich dem Haus zu nähern versuchte: dieses Dazwischen-Sein, der Moment, in dem Raum und Zeit verschmelzen, meine Verwirrung, die sich nach, wie Sie sagen, harter Erinnerungsarbeit einstellte. Dahin wollte ich den Betrachter mitnehmen, in diesen Möglichkeitsraum für das Unwahrscheinliche.

DJS_ Lassen Sie uns zu Ihren persönlichen Erinnerungen zurückkehren. Was haben Ihre Eltern gesagt, als Sie sich entschlossen, Künstlerin zu werden?

KK_ Naja, sie haben zunächst geschluckt, aber nach der ersten Schrecksekunde meinte mein Vater: »Du hast nur ein Leben und deshalb solltest du versuchen, das zu tun, was dir wichtig ist.« Meine Eltern haben mich immer bestärkt und ihre Sorgen, die sie mit Sicherheit hatten, für sich behalten. Dafür bin ich ihnen sehr dankbar, umso mehr, als ich heute als Hochschullehrerin sehe, wie viele Eltern ihren Kindern Unsicherheiten einpflanzen und die ohnehin vorhandenen Ängste noch verstärken.

DJS_ Vor Ihrem Kunststudium haben Sie von 1977 bis 1981 Germanistik und Philosophie in Münster studiert. Was interessierte Sie an diesen beiden Fächern und welche Berufs-vorstellungen verbanden Sie damit?

KK_ Das Lesen war damals neben dem Malen mein
zweites großes Interessensgebiet. Ich komme ja aus einem eher kunstfernen Haus. Mein Vater war Fußballspieler, meine Mutter Köchin. Mir war zu dem Zeitpunkt gar nicht klar, dass es so etwas wie ein Kunststudium überhaupt gibt. Es war davon noch nichts zu mir nach Marl vorgedrungen. So fing ich erst einmal in Duisburg und Münster an, Germanistik und Philosophie zu studieren, mit dem Ziel, Lehrerin oder lieber noch Lektorin zu werden. Erst in Münster eröffnete sich mir die Möglichkeit eines Kunststudiums, und so fing ich parallel damit an.

DJS_ Wie weit sind Sie mit diesem Erststudium gekommen und womit haben Sie sich befasst?

KK_ Als ich merkte, dass es mit der Kunst ernst werden könnte, entschloss ich mich kurz vorher, doch kein Staatsexamen zu machen und ganz auf die Malerei zu setzen. In meiner letzten Arbeit vor der Entscheidung ging es, soweit ich noch weiß, um die Identitätsproblematik in dem Roman Stiller von Max Frisch. Vielleicht erinnern Sie sich: Der Protagonist, eigentlich ein Icherzähler, weigert sich »ich« zu sagen. Er erscheint immer in der Er-Form. Damit vermeidet er es, sich mit der Rolle identifizieren zu müssen, die andere Personen ihm durch ihre Ansprache und ihr Verhalten aufzudrücken versuchen. In meine Überlegungen bezog ich das Werk Sprache und Bewußtsein des Philosophen Bruno Liebrucks mit ein. Mich beschäftigte der Gedanke, dass jemand, der zu einem anderen spricht, auch zu sich selbst spricht. Er verinnerlicht das Gesagte und macht es sich zu Eigen. Vereinfacht gesagt: Wie man spricht, so wird man.

DJS_ Der Bildhauer Stiller in Frischs Roman konstruiert sich ja als James Larkin White eine neue Identität, um seinem gescheiterten Leben zu entfliehen. Natürlich wird er von seiner Frau und alten Bekannten wiedererkannt und immer wieder auf seine alte Identität zurückgeworfen. Geht es in Ihren Bildern nicht um etwas Ähnliches, um die Behauptung einer neuen, anderen Realität, die zu unserer lebensweltlichen Realität in Konkurrenz tritt?

KK_ Nein, Kunst ist doch gewissermaßen Lüge. Deshalb kann sie der lebensweltlichen Realität die Wahrheit sagen, ohne in Konkurrenz zu treten. Die Bildwirklichkeit ist eine Wirklichkeit, die Lebenswirklichkeit eine andere, daran sollte es doch keinen Zweifel geben.

DJS_ Aber Ihre Malerei schürt doch genau diesen Zweifel. Sie hält die Balance zwischen maximaler Illusion und radikaler Desillusion. Alles ist scheinbar perfekt, doch irgendetwas stimmt immer nicht: die Größenverhältnisse, die Belichtung, die Schatten oder die Perspektive. Bei Ihren jüngsten Bildern, die Sie für Mies van der Rohes Haus Esters in Krefeld gemalt haben, ist kaum auseinanderzuhalten, was Spiegelung, was Schattenwurf, was Wirklichkeit sein soll. Mir scheint, dass Sie den Betrachter lustvoll zur Hinterfragung seiner Wahrnehmungen verführen. Ein solches Zweifeln ist seit jeher in der Philosophie von höchster heuristischer Bedeutung. Zweifeln Sie, wie Platon, an dem trügerischen Schein der Sinneseindrücke? Sind Sie gar dem wesenhaften Sein auf der Spur? Verstehen Sie sich am Ende als malende Philosophin?

KK_ Bloß nicht! Die Bilder, die da entstehen würden, möchte ich nicht sehen müssen. Ich glaube nicht, dass das Erkenntnisproblem Platons mein malerisches Selbstverständnis wiedergibt. Man kann diese beiden Disziplinen nicht so einfach analog setzen. Die Philosophie ist etwas höchst Eigenes, ebenso wie die Malerei. Wenn ich von dem durch die Malerei erzeugten Zweifel rede, dann meine ich etwas fundamental anderes. Das hat eher mit meiner Position als Künstlerin heutzutage zu tun. Auf den ersten Blick ist bei mir ja viel zu erkennen. Was aber ist da, wenn die Verschiebungen bemerkt werden? Was geht vor? Wo befinden wir uns? Nichts ist, wie es ist. Das meine ich damit. Die Faktizität verwandelt sich in Schein. Wenn wir schon einen Philosophen zu Wort kommen lassen wollen, dann doch lieber Friedrich Nietzsche: »Alles ist falsch! Alles ist erlaubt!« Womit ich nicht den Wert der Wahrheit überhaupt infrage stellen möchte, Nietzsche wohl auch nicht, eher den Glauben an absolute Wahrheiten und Werte.

DJS_ Für Nietzsche ist ja schon die Verehrung der Wahrheit »die Folge einer Illusion«. Alles Wirkliche entsteht für ihn einzig durch die »bildende, […] gestaltende, erdichtende Kraft«. Das passt doch eigentlich ganz gut auf Ihre Bilder.

KK_ Stimmt. Da möchte ich dann doch noch Augustinus bemühen, der gesagt hat: »Wenn ich lüge und gleichzeitig sage, dass ich lüge, sage ich die Wahrheit.« Nein, ich habe keinen Zweifel an der Sinnlichkeit, an der Realität der sinnlichen Erscheinungen. Ich schaffe Bildräume. In ihnen muss ich alles lösen. Es geht doch immer um die inhärente Distanz zur Realität. Ich will Wirklichkeit darstellen, in der künstlerischen Darstellung distanzieren und damit dann letztendlich transformieren. Alles muss im Bild plausibel sein. Bei dem Zyklus für das Haus Esters, einer Ikone der modernen Architektur, verband sich mein Nachdenken über Malerei mit der Irritation des eigenen Standorts gegenüber dem von Mies van der Rohe gebauten Modernismus. Das
Tafelbild beharrt ja in seiner formalen Verfasstheit auf einem unüberbrückbaren Abstand zur dreidimensionalen Lebenswelt des Betrachters, ganz anders als die Skulptur, die sich mit dieser verschränkt. Dadurch, dass der Zyklus zu dem Ausstellungsort selbst in Beziehung steht, wollte ich Gegenwart und Geschichte, Realität und Fiktion miteinander verschmelzen. Der Betrachter kann sich beim Sehen zusehen.

DJS_ In Ihren Bilderzählungen gehen Dokumentation und Fiktion immer wieder ineinander auf. Auf einem Bild von 2004 sehen wir ein Fernsehbild mit einer Frau, die ein Gewehr hält. Auf dem blanken Parkett daneben liegt das Fell eines erlegten Geparden (Kat. # 94, S. 42–43). Wir bringen das eine unweigerlich mit dem anderen in Verbindung,
obwohl heute jedes Kind weiß, dass eine Waffe in einem Spielfilm in Wirklichkeit niemanden tötet. In einem Bild für das Haus Esters (Kat. # 142, S. 116–117) lassen Sie die Bodenspiegelung abermals zur Begegnungsfläche verschiedener Repräsentationsebenen werden: Die beiden Kunsthistoriker Martin Hentschel und Thomas Wagner treten darin in Dialog mit einem längst verstorbenen Ahnen der Familie Esters. Ist jede Realität, auf die ein Bild verweist, nicht wiederum ein Bild der Realität? Ist nicht zuletzt jede Realität Interpretation, Komposition, Fiktion? Ist die Welt der kulturellen Zeichen nicht unhintergehbar? Sind es diese erkenntnistheoretischen Fragen, die Sie beim Malen umtreiben?

KK_ Ich will der Welt der kulturellen Zeichen, wie Sie es ausdrücken, gar nicht entgehen. Ich will sie in einen Kontext stellen, in dem sie wieder frei sind, für mich als Malerin, für Sie als Betrachter. Was sehen Sie, wenn Sie meine Bilder sehen?

DJS_ Ja, was ist das eigentlich, was ich da sehe? Genau dieser Frage kann sich keiner entziehen, der in den Strudel der Suggestionskraft Ihrer Bilder gerät. Ich werde bei der Auseinandersetzung mit Ihrer Kunst immer wieder auf epistemologische Fragestellungen gestoßen. Vielleicht gibt es ja doch so etwas wie ein symbiotisches Verhältnis zwischen Ihrer Kunst und der Philosophie. Mir fällt dazu sofort etwas ein: zum Beispiel Ihr Faible für Ordnungssysteme.
Ich denke da an ein hinreißendes Bild von 1998, auf dem Kirschen, Essiggurken und Kirschkerne in unterschiedlichen Zusammenstellungen dargestellt sind (Kat. # 52):
mal eine Kirsche über einem Kirschkern, dann zwei Kirschen nebeneinander, darauf folgend eine Kirsche neben einer Gurke über einem Kirschkern und so weiter. Diese Konfigurationen folgen wie Schriftzeichen aufeinander, Zeile um Zeile. Da fällt es schwer, nicht an Claude Lévi-Strauss’ Strukturalismus zu denken. Er hat einmal seine Grundthese, dass alle menschlichen Kulturen auf eine allgemeingültige, symbolische Grundstruktur zurückzuführen seien, am Beispiel des »kulinarischen Dreiecks« erläutert: Immer würde zwischen rohem, gekochtem und verfaultem Essen unterschieden, auch wenn die Grenzen und Kombinationsmöglichkeiten überall anders festgelegt seien. Ihr Bild ist eine satirische Projektion dieser ambitiösen französischen Theorie auf die Oberfläche eines banalen deutschen Küchentischs. Liege ich richtig?

KK_ Der artistische Schein suggeriert zwar eine sinnvolle Ordnung, aber ich sehe es genau umgekehrt. Ich füge die Dinge so zusammen, dass die Unterscheidung des Gebrauchs – und die Definition von Levi Strauss ist eine des Gebrauchs – überflüssig ist. Es sind wunderbare, aufgeladene Gegenstände, ob sie faulig oder genießbar, roh oder gekocht sind. Was Sie davor empfinden, können Sie erst empfinden, wenn Sie sich darauf einlassen. Die Ordnung spielt dann dabei keine Rolle, auch nicht die innere Barriere, dass Gurken und Kirschen vielleicht kulinarisch nicht vereinbar sind.

DJS_ Trotz Ihrer steten Abwehrhaltung gegenüber der Philosophie macht es Spaß, mit Ihnen zu philosophieren. Lust und Abneigung liegen ja häufig dicht beieinander. Ich möchte also noch einen Vorstoß wagen: Ihre Tierporträts (Kat. # 07, S. 66–67) pflegen Sie fein säuberlich ins Raster zu hängen – eine Anspielung auf Die Ordnung der Dinge, das Buch des Diskurstheoretikers Michel Foucault, das seit den 1970er-Jahren auf den Fluren der deutschen Unis für Gesprächsstoff sorgte?

KK_ Foucault hatte ich dabei, ehrlich gesagt, nicht im Sinn. Mich interessiert auch immer der historische Aspekt von Malerei und so beschäftigte ich mich mit dem Porträt. Man kann sich diesem Thema eigentlich nicht unbefangen nähern. Unsere Sehgewohnheiten sind durch die Kunstgeschichte geprägt. Jeder weiß, was ein Porträt ist, und ist dadurch in seiner Wahrnehmung beeinflusst. Ich porträtierte die Tiere auf zwanzig mal zwanzig Zentimeter großen Leinwänden in Nahsicht, als ob ich Bildnisse von sehr vertrauten Personen malte. Ich wollte dem einzelnen Tier als Individuum Geltung verschaffen und damit gleichzeitig den Konventionen des Porträtierens entgehen.

DJS_ Wenn ich Foucault mit den Tierporträts in Verbindung bringe, dann eigentlich wegen des durch ihn berühmt gewordenen Zitats von Jorge Luis Borges über eine »chinesische Enzyklopädie«, welche die Tierwelt völlig unsinnig untergliedert in »a) Tiere, die dem Kaiser gehören, b) einbalsamierte Tiere, c) gezähmte, d) Milchschweine, e) Sirenen, f) Fabeltiere, g) herrenlose Hunde, h) in diese Gruppierung gehörige, i) die sich wie Tolle gebärden, k) die mit einem ganz feinen Pinsel aus Kamelhaar gezeichnet sind« und so weiter und so fort. Borges hat das natürlich alles erfunden, um zu zeigen, dass unsere wissenschaftlichen Taxinomien nicht die einzige mögliche Sicht auf die Dinge sind. Ein Hahn neben einer Kuh neben einer Wildsau neben einem Schaf – Ihre Tierporträts machen fast ebenso viel oder wenig Sinn wie die »chinesische Enzyklopädie«. Ging es Ihnen, wie
Borges, darum, der biologischen Untergliederung in Gattungen und Arten das offene, assoziative Ordnungsschema der Kunst entgegenzustellen?

KK_ Das Interesse am einzelnen Porträt sollte durch die Präsentation der Bilder in einer rasterförmigen Anordnung auf eine abstrakte Struktur gelenkt werden, die stets weiter ergänzt und neu zusammengestellt werden kann, bei gleichzeitigem Erinnern, Wiederholen, Ähneln, auch in entfernter Anlehnung an eine Ahnengalerie. Das Porträtieren der Tiere bedeutete für mich eine Verfremdung meiner Interpretation des Tieres und auch meiner Sehgewohnheiten und Vorurteile. Mir ging es um die Aufladung der Motive. Das war meine Herausforderung.

DJS_ Foucault hat am Beispiel von Diego Velázquez’ Las Meninas gezeigt, wie ein Maler die Wissensstruktur seiner Zeit ins Bild setzt. Die weiche Malpaste setzt dem Denken weniger Widerstände entgegen als die harte Lebenswelt. Ein Gemälde kann also ziemlich unverstellt wiedergeben, was wir für gültig und wahr halten. Im Falle von Velázquez hängt laut Foucault alles am abwesenden Souverän, der nur als Spiegelbild präsent ist und doch dem Maler wie dem Betrachter die Regeln diktiert. Wie ist das bei Ihnen? Welche Wahrheit vermitteln Ihre Gemälde?

KK_ Mich interessiert der abwesende Souverän in Velázquez’ Bild überhaupt nicht und ich glaube im Übrigen auch nicht an die foucaultsche These zu diesem Bild. Mir gefällt seine Rätselhaftigkeit und mich amüsiert die Uneinigkeit in der Interpretation, die sich eben nicht nur auf die sich wandelnde Weltsicht der Epochen zurückführen lässt. Es ist ein unglaublich selbstbewusstes Artistenbild, in dem der Künstler die Blicke dirigiert, die Fallen aufstellt. Ob das Bild bis heute ausgedeutet ist, ob es in Zukunft jemals ausgedeutet sein kann – ich möchte es im Sinne des Bildes bezweifeln. René Magritte hat in einem Brief an Michel Foucault geschrieben: »Die Meninas sind das sichtbare Bild des unsichtbaren Denkens von Velázquez.« Das gefällt mir gut. Wenn ich meinen Bildern eine ähnliche Unauslotbarkeit verleihen könnte, eine sinnliche Dimension des Immer-weiter-Denkens – das wäre es.

DJS_ Das ist es. Gute Kunst visualisiert Denkbewegungen, die des Künstlers, aber auch die eines kulturellen Umfelds, einer Epoche. Das ist auch Foucaults Grundannahme. Im Gegensatz zu ihm stellen Sie jedoch nicht die Repräsentation des Souveräns, sondern die Offenheit des Denkens in den Mittelpunkt Ihrer Velázquez-Interpretation. Das finde ich auch im Hinblick auf Ihre Arbeit sehr interessant. Am Rand des Meninas-Bildes sehen wir eine Staffelei mit Leinwand von hinten und daneben, fast in der Mitte des Bildes, einen Spiegel, in dem wir König und Königin erkennen können. Wir wissen jedoch nicht, ob das reflektierte Herrscherpaar das aus Fleisch und Blut oder das gemalte ist. Solchen Täuschungsmanövern erliegt auch der Betrachter Ihrer Bilder. Auf einem Bild liegt ein Hund faul auf dem Boden (Kat. # 128, S. 53). Auf den ersten Blick glauben wir, dass sein Spiegelbild in dem blanken Parkett verzerrt ist. Doch nach einer Weile erkennen wir, dass das Tier hier seinen Kopf erhoben hat und aufmerksam lauscht. Welcher der beiden ist nun echt? Schwer zu sagen. Es hängt davon ab, wie herum das Bild an der Wand hängt. Wir stoßen nie auf den Grund der Wahrheit. Alles hängt vom Betrachtungswinkel unserer Interpretation ab. Ihre Bilder beschäftigen sich also mit menschlichen Wahrnehmungs- und Denkprozessen. Doch Menschen kommen darin kaum vor. Auf dem flüchtigeren Medium der Aquarelle finden wir sie häufiger, doch auf den Ölgemälden nur in Fernsehbildern oder Spiegelungen. Weshalb diese Fehlstelle Mensch?

KK_ Lange trat der Mensch nur indirekt in meinen Bildern auf, vermittelt durch das, was er hervorbringt. Mir war die Menschendarstellung zu psychologisch, zu viele Eitelkeiten und dann noch der Kampf um die Ähnlichkeit. Trotzdem ist der Mensch in allem der Stoff meiner Bilder.

DJS_ Genug Geisteswissenschaft. Lassen Sie uns zu Ihrer künstlerischen Ausbildung kommen. Von 1981 bis 1987 haben Sie an der Staatlichen Kunstakademie in Düsseldorf studiert. Es hat mich überrascht zu erfahren, dass Ihr erster Lehrer dort Johannes Brus war. Er ist Bildhauer und Fotokünstler. Wie kamen Sie zu ihm? Wollten Sie zunächst gar nicht
Malerin werden?

KK_ Doch, aber ich unterscheide nicht zwischen Malern, Bildhauern und Fotografen. Für mich sind es Künstler, die mich mehr oder weniger interessieren, egal ob sie Videokünstler oder Performer sind. Und auch in meiner eigenen Klasse in München bin ich immer bemüht, unterschiedliche Disziplinen zu beherbergen.

DJS_ Johannes Brus ist für seine absurden Kompositionen bekannt. 1973 hat er zum Beispiel in der Kunsthalle Baden-Baden eine Landschaft aus Bäumen, fliegenden Gurken, schwebenden Tüchern, einer Tellerspirale und einem Sofa aufgebaut. Heute arbeitet er vor allem an Betongüssen von Tieren und Industrieteilen, die er zu ebenso abwegigen Ensembles fügt. Er ist damit gar nicht so weit entfernt von Borges’ Enzyklopädie oder den Surrealisten. Lebt in der Motivik Ihrer frühen Arbeiten aus der Mitte der 1980er-Jahre, etwa der Frau mit dem Fisch auf dem Kopf, nicht die gleiche Freude daran, zusammenzufügen, was nicht zusammengehört? Bestimmt dieses surrealistische Kompositionsverfahren auch heute Ihre malerische Methodik?

KK_ Für mich gehört das schon alles genau so zusammen, wie ich es male. Dada, Pop, Surrealismus haben viel befreit in der Kunst. Diese Autonomie hat uns sicher allen geholfen, aber auch nur dann, wenn aus all diesen abstrakten Möglichkeiten eigene künstlerische Positionen werden.

DJS_ Nach Brus haben Sie bei Norbert Tadeusz studiert, einem »Vollblutmaler«, wie in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 19. Februar 2000 zu lesen war, einem Beuys-Meisterschüler, der bereits in den 1960er-Jahren eine sinnlich hochpräsente, realistische Darstellungsweise praktizierte. Das macht im Hinblick auf Ihre Karriere Sinn, nicht? Was hat er Ihnen mitgegeben?

KK_ Vieles. Vor allem Begeisterungsfähigkeit, ein Augenmerk für Farbklänge, Schattierungen, das Kolorit eines Bildes, einen tiefen Glauben an die Möglichkeiten von Malerei.

DJS_ Neun Jahre vor Ihrem Studienbeginn in Düsseldorf war Joseph Beuys fristlos von Kultusminister Johannes Rau entlassen worden. Doch Ende 1980 richtete Beuys nach
einem Vergleich vor Gericht im »Raum 3« der Kunstakademie die Geschäftsstelle seiner Free International University ein. Inwieweit war er für Sie eine spürbare Größe?

KK_ Als Künstler war er in jedem Fall eine spürbare Größe. An der Akademie in den 1980er-Jahren spielte er für mich aber keine so große Rolle. Der Moment der Institutionalisierung seiner Sache in Form einer Geschäftsstelle in der Akademie war eigentlich der Moment, an dem die Faszination für ihn nachließ. Ein wichtiger Künstler, sicher, aber diese Free International University hat mich nicht interessiert. Ich mochte seinen Ausspruch »der Fehler fängt schon an, wenn einer sich anschickt, Keilrahmen und Leinwand zu kaufen«.

DJS_ Doch genau das taten Sie dann. Opponierten Sie gegen Beuys’ erweiterten Kunstbegriff?

KK_ Nein, ich tat es ja schon vorher. Dass es ein Fehler sein sollte, erfuhr ich erst, als mir zufällig seine Postkarte mit besagtem Ausspruch in die Hände fiel. Da war ich schon in die Falle getappt. Und immerhin war mein zweiter Lehrer, den Sie »Vollblutmaler« nannten, Meisterschüler von Joseph Beuys. Bei Beuys gibt es immer zwei Seiten, über die man sprechen müsste, seine Manifeste mit Weltverbesserungsvorschlägen auf der einen Seite und seine komplexen künstlerischen Arbeiten auf der anderen, über die er im Übrigen nicht so viele Worte verloren hat. Erstere sind oft widersprüchlich und erscheinen mir, als Feststellungen gesehen, sehr angreifbar. Ich habe seinen Ausspruch eher als provokante Hinterfragung begriffen.

DJS_ Schließlich wurden Sie Meisterschülerin von Gerhard Richter, dem unbestreitbar berühmtesten deutschen Künstler der Gegenwart. Besser konnte es nicht laufen, oder?

KK_ Richter war für mich als Lehrer zu dem Zeitpunkt genau der Richtige. Was Sie suggerieren, dass der Stempel des berühmten Meisters im Verlauf meines Malerlebens auf den sogenannten Erfolg Einfluss hatte, trifft nicht zu.

DJS_ Was haben Sie von Richter mitgenommen?

KK_ Seine Bilder. Über Malerei nachzudenken.

DJS_ Sein großer Beitrag zur Kunstgeschichte ist es doch, abstrakte und realistische Gemälde meisterhaft in einem
Lebenswerk vereint zu haben. Sie verstehen es nicht weniger meisterhaft, Realismus und Abstraktion in einem Gemälde, ja sogar in einem Motiv vollständig in eins laufen zu lassen. Ein Tropfen Wasser auf einer Scheibe, ein spiegelnder Parkettfußboden oder der Faltenwurf eines Vorhangs sind nicht nur als figurative Darstellungen, sondern ebenso gut als
abstrakte Formationen erfahrbar. Ist es Ihr Beitrag zur Kunstgeschichte, die von Richter angelegte Synthese zweier über Jahrzehnte konkurrierender Kunstrichtungen vollendet zu haben?

KK_ Sie versuchen mich immer wieder auf eine bestimmte Summe festzulegen.

DJS_ Ich versuche zu verstehen …

KK_ Wenn ich eines nicht sein will, dann ist es die Vollenderin. Ich will lieber etwas ermöglichen, erweitern, neue Fragen stellen.

DJS_ Heute sind Sie selbst Professorin, zuvor in Bremen, nun an der Akademie in München. Was machen Sie anders als Brus, Tadeusz und Richter, was gleich? Was ist Ihr Selbstverständnis als Lehrende?

KK_ Das mit dem Lehren ist so eine Sache. Ich glaube, dass Kunst nicht lehrbar ist. Allerdings lassen sich künstlerische Fähigkeiten stimulieren. Ich versuche, den Studierenden bei der Ausbildung einer künstlerischen Haltung zur Seite zu stehen und ihnen die Zeit zu lassen, die sie brauchen, um sich zu entwickeln. Nur so kann Unbekanntes, kann Kunst entstehen. Anders ist schon mal, dass ich ein anderer Mensch bin und nur versuchen kann, mit meiner eigenen Subjektivität im Rücken, mit meinen Studierenden ins Gespräch zu kommen. Und anders ist auch die Zeit. Für mich war mein Studium eine besondere Zeit, nie eine Durchgangssituation, in der die Anforderungen der Wirtschaft, Lernökonomie und gerade Wege zählten. Das Studium als eine besondere Zeit, »die schönste Zeit im Leben«, wie meine Eltern damals sagten, eine Zeit der Selbstformung, der Neugier, des Austauschs, der Maßlosigkeit schwindet. Heute ist es schwierig, Flexibilität zu lernen. Das fällt umso mehr ins Gewicht, als gerade in der Kunst die fruchtbaren Momente nicht voraussehbar sind.

DJS_ Das ist eigentlich schon ein schönes Schlusswort. Wie ist das eigentlich in der Malerei, wie finden Sie da ein Ende? Woran merken Sie, dass ein Bild fertig ist, und kommt es vor, dass ein Werk einfach kein gutes Ende finden will?

KK_ Ein Bild ist für mich fertig, wenn ich nichts mehr hinzuzufügen habe, wenn ich es anschaue und mein Blick nirgends aneckt, wenn ich meinem inneren Bild ein wenig näher gerückt und gleichzeitig überrascht bin. Manchmal, allerdings eher selten, denn die Leinwand ist geduldig, klappt es nicht. Vielleicht ist die Idee nicht tragfähig. Es kann aber auch sein, dass die Umsetzung mich überfordert oder ein handwerkliches Problem zu sehr in den Vordergrund gerät. Vielleicht habe ich mich täuschen lassen.

DJS_ In der Kunsthalle Tübingen ist nun erstmals eine
Retrospektive Ihres Schaffens zu sehen, die von den Anfängen Ihrer Künstlerkarriere in den späten 1980er-Jahren bis heute reicht. Was erwarten Sie von einem solchen Vorhaben?

KK_ Einen Blick zurück nach vorn.