Realismus ist anders

Daniel Spanke
Distanz, Serie und Ornament als künstlerische Strategien im Werk von Karin Kneffel

 

Früchte


Aus einem Bild Karin Kneffels leuchten große, runde Pfirsiche inmitten von Geäst und Blattwerk hervor (Kat. 9). Die vollreifen Früchte locken in satten Farben – gelb, orange, rot – in denen für Pfirsiche so typischen Nuancen. Sie wölben sich prall nach vorne und drängen sich in ihrer saftigen und doch straffen Fleischigkeit dem Auge förmlich auf. Obwohl Pfirsiche in unserer Wohlstandsgesellschaft durchaus alltäglich sind und man sie überall ganzjährig kaufen kann, ist in dem Motiv etwas vom Luxus des Lebens zu spüren, den solche Früchte in ihrer Fülle wie ein Sinnbild versprochenen Genusses vermitteln. Schon dieses Versprechen ist im Einklang mit der Pracht des Anblicks zweifellos ein Genuss, wie er uns zum Beispiel in Werbungen für Obst oder Fruchtsäfte häufig begegnet.
Karin Kneffel hat die Früchte am Baum in größtmöglicher Perfektion dargestellt. Keine Faulstelle, kein Insekteneinstich, kein Abweichen von einem Idealtyp stört den Eindruck der Vollkommenheit dieser Natur. Und nicht nur sind die Pfirsiche als perfekte Früchte gemalt, auch die Malweise selbst strebt nach größtmöglicher Perfektion der Wiedergabe. Sie gibt sich den Anschein, den hohen Aufwand an künstlerischen Mitteln vergessen machen zu wollen, die diese Darstellung erst möglich werden lässt. Es macht einen Teil der Faszination dieser Werke aus, sich das technische Vermögen der Malerin vor Augen zu führen. In allen ihren Werken sind die Gegenstände verblüffend realistisch und präzise wiedergegeben. Realistische Malerei wirft immer die Frage auf, wie sie möglich ist, aber auch, ob sie die Wirklichkeit, die sie zu zeigen vorgibt, getreu wiederholt oder ob sie sie auch interpretiert. Wo wir etwas von Dingen erfahren wollen, die unseren Augen sonst nicht zugänglich sind, ist die getreue Wiederholung notwendig. So muß eine Straßenkarte möglichst exakt und ein Computertomogramm möglichst genau die Strukturen der Wirklichkeit wiedergeben. Treffenderweise heißt es, „man mache sich ein Bild“, wenn man sich über etwas eingehend informiert. Doch auch diese Bilder interpretieren, sie filtern bestimmte Informationen heraus und verstärken andere überproportional. Die eigene Fragestellung bestimmt die Art und Weise solcher Abbildungen. Wie aber lautet die Frage bei einem Bild von Pfirsichen, wie Karin Kneffel es uns zeigt? Das ist nicht leicht zu beantworten, denn offensichtlich handelt es sich dabei nicht um ein solches Bild, das im eben skizzierten Sinne funktioniert. Den Ausdruck „realistisch“ würde man auf ein funktionales Bild wie eine Karte oder ein Dokumentationsfoto gar nicht anwenden, obwohl sie viel Realität enthalten. Von „Realismus“ ist immer dann die Rede, wenn wir ihn eigentlich nicht erwarten: bei einem gemalten, von Hand gemachten Bild, von dem wir wissen, wie schwierig es ist, es nicht wie gemalt aussehen zu lassen. Um jedoch Pfirsiche zu sehen, wäre ein Bild eigentlich nicht nötig. Und so schauen wir uns diese Früchte im Bild nicht an, um etwas über sie herauszufinden, auch wenn sie ganz genau wiedergegeben sind, sondern weil mit ihnen etwas gezeigt wird – etwas, das sie selbst nicht sind, sondern das mit dem Bild zu tun hat. Bewegt man sich vor einer Darstellung, verzerren sich die Formen auf der Bildfläche und geben so ihre Flächigkeit preis. Bei allem Illusionismus liegt es keinesfalls nahe, Bilder tatsächlich mit der Wirklichkeit zu verwechseln. Die Eigenarten einer gemalten Darstellung gegenüber der Wirklichkeit werden von Karin Kneffel nun zusätzlich durch bestimmte künstlerische Strategien noch verstärkt. Bei dem erheblichen Format des Gemäldes (2 x 2 m) etwa erscheinen die Pfirsiche enorm überdimensioniert. „Jeder Realismus ist anders als die Realität.“ schreibt Peter Sager einleitend in seinem Buch über „Neue Formen des Realismus“. Und so ist es gerade die Differenz zwischen der Wirklichkeit, wie es sie gibt, und dem, was das Bild zeigt, die es in den Blick zu nehmen gilt, denn darin scheint sein Sinn als Kunstwerk zu liegen. Weder ist diese Differenz ein Mangel der Darstellung, noch liegt in der täuschend echten Wiedergabe schon die Qualität dieser Kunst, sondern ihr Realismus als eine überzeugend wirkende und doch von jeder Realität verschiedene, bildliche Welt lässt im Abbild das Kunstwerk sichtbar werden.
Das Sujet scheint durch das immense Ausmaß zusätzlich mit höherer Bedeutung ausgestattet zu werden. Denn das absichtlich groß Gezeigte wird wohl mit einer entsprechenden Wichtigkeit übereinstimmen. Diese Rhetorik der Größe ist jedoch aus dem so harmlosen Motiv, das als realer Obstteller oder dargestellt auf Porzellan und in dekorativen Stilleben zur Ausstattung des gemütlichen Heims gehört, gar nicht abzuleiten. Sie wirkt weder besonders luststeigernd, sondern eher im Gegenteil bedrohlich, noch löst eine symbolische Interpretation Erwartungen an besondere Sinnschwere ein , die die Größe rechtfertigen würde - die Übergröße scheint unangemessen zu sein und einer Ästhetik der Überhöhung des Natürlichen nahezukommen. Auch die nuancenreiche, jede Spur des Pinselstrichs auslöschende und genau abbildende Malweise wertet das damit Gezeigte auf, denn wenn etwas so überdeutlich, nachdrücklich und gleichsam pathetisch vorgewiesen wird, muß es doch besonders wichtig sein, es genau und aufmerksam zu betrachten.
Auf der Ebene des Motivs gibt es jedoch keine Erklärung für das Bild, für seine Größe und seine Darstellungsweise. Die Monumentalität und Glätte der Darstellung verhindern sogar eine wirkliche Einfühlung in das Gezeigte und halten den Betrachter auf Abstand. In die erste, wohlige Anmutung mischen sich kältere Töne. So wird die Anziehungskraft, die die leuchtenden Pfirsiche auf den Betrachter ausüben, wieder abgebremst. Zudem wird der Bildraum von der Pfirsichpflanze gleichsam versperrt und der Blick bleibt deshalb in den vorderen Schichten des Bildes gebunden. Es scheint zwar ein Dahinter zu geben, dieses wird unseren Augen jedoch verborgen. In zahlreichen Arbeiten hat Karin Kneffel diese Bildanlage durchgespielt und entfaltet (Abb. 1, Kat. 9). Diese „versperrten Früchtebilder“ bilden in ihrem Werk einen Typus. Ein anderer Typus innerhalb der Früchtebilder kombiniert zwei verschiedene Perspektiven miteinander: Äste mit Blättern und Früchten in der vordersten Bildschicht und einen Durchblick auf eine weit entfernte und tief liegende Landschaft (Kat. 11, 12). Auch diesen Werken ist zunächst ein idyllisches Moment eigen, das vom Motiv herrührt. Doch der Eindruck der Idylle als Ort beschaulicher Geborgenheit will sich nicht so recht einstellen, denn Nah- und Fernsicht sind so unvermittelt zusammengestellt, dass sie sich gegenseitig geradezu dramatisieren. Zur Idylle passt solche Dramatik wenig. Auch zu diesen Bildwelten kann der Betrachter keinen überzeugenden Standpunkt einnehmen, der ihn Sicherheit gewinnen läßt. Denn die Künstlerin hat keinen Vordergrund mitangegeben, auf dem ein eigenes Stehen und damit ein räumlicher Bezug zum Bildraum vorstellbar wäre. Man hat den irritierenden Eindruck, in ungeklärtem räumlichen Verhältnis zu dem nah scheinenden Obstzweig und unabgesichert durch eine fehlende bildliche Verankerung des eigenen Ortes eventuell sogar hoch in der Luft zu hängen. Auch das Empfinden für die eigene Größe wird bei dem Versuch sich in räumliche Beziehung zu dem Bild zu setzen durch die beinah heroische Monumentalisierung von Frucht und Landschaft verunsichert. Indem der Betrachter sein Verhältnis zum Bild schon räumlich nicht klären kann, wird er immer wieder auf sich selbst verwiesen. Die Einbeziehung in eine schöne, wenn auch imaginäre Welt, um deretwegen realistische Malerei oft nur geschätzt wird, ist empfindlich gestört. Karin Kneffels Malerei ist realistisch und unrealistisch zugleich. An der genauen und exakten Wiedergabe der Dinge wird man kaum etwas kritisieren können, dennoch leisten diese Bilder Widerstand in der bloßen Wiederholung des Wirklichen aufzugehen. Sie zeigen nicht nur etwas realistisch, sie zeigen auch sich selbst als Bild.


Feuer
In einer weiteren Serie, deren Bilder Feuer zeigen, hat die Künstlerin den Unterschied zwischen Bild und Lebenswirklichkeit durch das Thema der Gefahr besonders dringlich gemacht. Verführen die Früchtebilder den Betrachter durch das positiv besetzte Thema dazu, sich zunächst auf die Bildwelt einlassen zu wollen, um dann subtil von ihr zurückgewiesen zu werden, geht die Künstlerin in der etwas früher begonnenen Serie der Feuerbilder direkter vor. Denn der Anblick eines realen Brandes löst sofort jene instinktiven Alarmmechanismen aus, die nötig sind, um sich in Sicherheit zu bringen, vorzugsweise durch Flucht. Als Bildbetrachter dürfen wir jedoch stehenbleiben und das Feuer wohlig schaudernd betrachten. Vor der großen,
7, 20 m breiten Feuerwand, die Karin Kneffel 1996 gemalt hat (Kat. 10), sind wir dem flammenden Inferno so unmittelbar ausgesetzt, das man die Bildgrenzen fast aus der Sicht verliert. Wie in den versperrten Früchtebildern wird der Blick auch hier nicht in eine imaginäre Tiefe geführt, sondern die Bildanlage folgt der Flächigkeit des Bildes. Dieses Feuer erscheint wie stillgestellt, im Moment eingefroren und obwohl das extrem breitgelagerte, friesartige Format den Gedanken an ein Ablaufen hervorruft, besitzt es keinerlei zeitliche Dimension. Die Zerstörung, Prozess, Ziel und Resultat von Bränden, ist diesen Bildern selbst dann nicht abzulesen, wenn wie einem kleinen Feuerbild Balken herabzustürzen scheinen (Kat. 3). Ihr brandbedingter Sturz ist eine Vorstellung und keine Bewegung, die im Bilde anschaulich wird, denn der Balken steht im Bilde wie schwebend fest. Aus diesem Grunde wirken diese Feuer eben nicht wie Brände, die uns vor dem Bild selbst bedrohlich werden könnten, sondern wir sehen Flammenformationen, die abgelöst von ihrer physikalischen Kraft, ästhetisch faszinieren. Es handelt sich bei den Feuern von Karin Kneffel nicht um Ereignisbilder, in denen ein Geschehen bildlich nachvollzogen werden könnte. Allen Werken Karin Kneffels ist die Zeitdimension entzogen; in den Feuerbildern fällt diese weitere Strategie der Entfremdung und Bildwerdung besonders stark ins Auge, weil wir um die starke Veränderlichkeit und Ausdehnungskraft von Bränden wissen. Das Feuer wird seiner Lebenswirklichkeit und seines Ereignischarakters entkleidet vor allem als ästhetisches Phänomen präsentiert. Die flüchtigen, immateriellen, formlosen und doch immer wieder gestaltannehmenden Flammen üben in diesen Bildern einen großen optischen Reiz aus, der nur aus einer Perspektive der Distanz seine Wirkung entfalten kann. Dies kann in einigen Bildern sogar motivisch werden, wenn etwa in einem 1992 entstandenen Werk ein Berg selbst unverbrennbar zu brennen scheint (Abb. 2). Diesen früheren Arbeiten ist ein gewisses surreales Moment eigen, indem die realistische Bildwelt durch unwahrscheinliche oder absurd erscheinende Kombinationen dem Gewohnten entfremdet wird (Abb. 3). Spätere Bilder verzichten auf die offensichtliche Entfremdung auf motivischer Ebene und erreichen das strategische Ziel, die Distanz von Lebenswirklichkeit und Bild sichtbar zu machen, allein durch den subtilen Bildaufbau bei Wahrung der motivischen Plausibilität. Um die Mitte der 90er Jahre hat sich Karin Kneffel zudem jene, die Werkspur vertreibende Malweise erarbeitet, die der realistischen Anmutung ihrer Arbeiten so entgegenkommt.
Karin Kneffel stellt ihre Darstellungen damit in einen Zusammenhang, der den Charakter ihrer Bilder als Kunstwerke beleuchtet. Denn es gehört zu den historischen Voraussetzungen von Kunstgattungen wie Landschaft oder Stilleben, dass das in ihnen zu Erkennende nicht in der Normalität seiner alltagsweltlichen Bedeutung verbleibt, sondern in einem davon abgezogenen, abstrahierten (ab(s)-trahere, lat.= abziehen) Sinn wahrnehmbar wird. Denn erst, wenn man die Abbildung von Bränden oder auch Früchten nicht mehr nur in ihrem naheliegen Informationsgehalt, sondern vor allem als optisch interessante Erscheinungen betrachtet, wird das Bild frei, Kunstwerk zu sein. Das Früchtebild hat seine Funktion nicht im Anregen von Appetit und das Feuerbild nicht in der Dokumentation eines Brandes oder der Warnung vor unbedachtem Umgang mit Streichhölzern. Wer Kunst betrachtet, steigt aus dem unmittelbaren Vollzug des Lebens aus und bezieht eine Position über den Dingen. Deshalb kann Kunst auch funktionslos bleiben – sie findet in der Funktionslosigkeit sogar eine ihrer wesentlichen Bestimmungen. Der Status als Kunstwerk kappt sozusagen den Bezug eines Bildes zur Lebenswirklichkeit der Darstellung. Das funktionale Bild bleibt vor dieser Konsequenz aller Bildlichkeit, weil wir es benutzen und mit ihm umgehen. Es ist wohl eine Wahrheit der Kunst, das sie dem Leben immer schon aus einer Entfernung gegenübersteht, so sehr man beide auch seit dem 19. Jahrhundert zusammenbringen wollte. Karin Kneffels Werke handeln weniger von Natur als von Kunst und dem Prozess der Bildwerdung von Wirklichkeit. Sie zeigt keine „Gegennatur“, wie Norbert Messler es formuliert hat – dies würde voraussetzen, dass sie die Entfremdung der Natur in der Wirklichkeit thematisiert – sondern die Werke sind selbst eine Gegennatur, indem sie die Entfremdung von Wirklichkeit im Bild vorführen. So gesehen ist der Realismus dieser Malerei eben keine Funktion der Objektivität und der neutralen Abbildung, sondern ein Instrument der Neudeutung von Wirklichkeit. Die Trennung von Motiv und künstlerischer Bedeutung des Bildes, von informativer Abbildung und Kunstwerk führt Karin Kneffel in ihren Werken vor und ihr Thema ist damit vermutlich genauer bezeichnet als mit der Beschreibung von gegenständlichem Inventar. Deshalb können diese Arbeiten mit großer Berechtigung ohne Titel bleiben, denn um die Präsentation von Früchten um der Früchte oder von Feuer um des Feuers willen geht es eben nicht.


Tiere
Eine noch ältere Gruppe von Werken macht besonders deutlich, dass es der Künstlerin darum geht, Bilder, so realistisch sie auch sein mögen (und sie können, wie Karin Kneffel uns zeigt, sehr realistisch sein), als Abstraktion der Wirklichkeit darzulegen. Ab 1990 entstehen einige Jahre lang kleinformatige, 20 x 20 cm messende Porträts von Nutztieren, die in einer rasterförmigen Anordnung ihre Wirkung am besten entfalten. In jedem dieser Bilder ist jeweils entweder der Kopf eines Huhns, eines Schafs, eines Rinds oder einer Ziege in starkem close-up zu sehen und in dieser sich wiederholenden Reihenfolge erfolgt die Präsentation des Werkes (Kat. 1). Die Nahsicht des Kopfes erinnert an Situationen der Innigkeit, die dem Gedenken an eine vertraute Person in ihrem Bildnis, weniger aber dem Anblick eines Stücks Vieh angemessen erscheint. Eine in Bezug auf das Motiv übertriebene Sentimentalität wird aufgerufen, sogleich aber durch die Massierung und musterartige Anordnung konterkariert. Denn dem intimen Format, das man in trauter Zwiesprache betrachten möchte, widerspricht die serielle Häufung der Bilder, die den Blick für das Ensemble weitet. Wenn auch Bildnisse in entsprechenden Porträtgalerien durchaus reihenweise vorkommen mögen, so steht eine solch enge und gleichförmige Gruppierung doch gegen die Idee des Porträts, einem einzelnen Individuum Ansehen und Geltung zu verschaffen. In der Tat stellt zwar jedes der Tierporträts Karin Kneffels einen individuellen Kopf dar - dies ist eine Bedingung des Realismus‘ ihrer Malerei - doch wird man kaum annehmen, Karin Kneffel hätte jedes einzelne Tier mit der Absicht seiner Repräsentation wiedergegeben, wie dies die Gattung Porträt nahelegt und vielleicht für jene Rindergemälde eines Paulus Potter oder Pferdekonterfeis von George Stubbs gelten mag. Zwar könnte jedes dieser Tierporträts auch einzeln hängen, das Konzept dieser Werke kommt aber am deutlichsten zum Ausdruck, wenn sie tatsächlich in einem prinzipiell unabgeschlossenen Bilder-Feld angeordnet werden, in dem auf ein Huhn irgendein Schaf folgt, auf dieses ein Rind und so fort. Das Interesse für einzelne Exemplare wird durch die Zusammenstellung einer möglichst großen Zahl dieser Bildnisse überfordert und die Aufmerksamkeit statt dessen auf eine abstrakte Struktur auf höherer Ebene gelenkt. Dem Werktypus der Serie entsprechend bilden die einzelnen Arbeiten Elemente eines größeren Werkes, das stets weiter ergänzt und neu zusammengestellt werden kann. In der Tat meint im biologischen Sprachgebrauch die Bezeichnung „Individuum“ in Bezug auf Tiere nicht jenes anthropologische Konzept des sich seiner selbst innegewordenen Menschen, sondern schlicht und nüchtern die numerische Einzelkreatur. Durch diesen Seriencharakter des Werkes wird die Bedeutung nicht nur vom Motiv weg und zur ästhetischen Qualität davon abstrahierter, genuin bildlicher Erscheinungen hin verlagert, sondern dieser Übergang wird selbst zum Thema des Werkes. Denn der ursprüngliche Sinngehalt eines Porträts, von Früchte- oder Feuerbildern gerät ja nicht in Vergessenheit, sondern bleibt in der Entfremdung des Motivs zum Bild aufgehoben.


Gitter und Lebensmittel
Durch das rasterförmige Arrangement werden die Tierporträts in die Form eines Musters, einer „Über-Ordnung“ überführt. Diese Muster- oder Ornamentbildung ist in einigen Werken der letzten Jahre wieder in die Motivik zurückgeflossen. So zeigen zwei 1997 und 1998 gemalte Arbeiten parkähnliche Landschaften mit hohen Kiefern im Hintergrund, die von schmiedeeisernen Gittern im Vordergrund verschlossen werden (Kat. 13, 14). Die Versperrung des Bildes, die einige Früchtebilder mit ihrer dickichtartigen Struktur vorgebildet haben (Abb. 1, Kat. 9), findet im Motiv der Gitterbilder eine bildgegenständliche Konkretisierung: das Gitter ist ein Bauelement, mit dem tatsächlich etwas versperrt und abgeschlossen werden soll. Was in den Früchtebildern jedoch motivisch in eins gesetzt war - das natürliche, möglicherweise so vorkommende Obstdickicht und das Künstliche der von Karin Kneffel erdachten abblockenden Bildanlage, die die reale Position des Betrachters vor einem Gemälde an der Wand bewußt bleiben lässt – ist hier auf die künstlich hergestellten Gitter und die dahinter sichtbare Natur verteilt. Dabei bilden die Formen der Gitter durchaus keinen Gegensatz zu denen der Natur. Sie sind stark ornamental gestaltet und aus Schwüngen, Voluten oder heraldischen Lilien (Kat. 13) zusammengesetzt. Vegetabile Strukturen wie Pflanzenranken-, stengel und Blüten sind in eine strenge, kalligraphisch anmutende Kunstform übersetzt, in der jedes Element durch Symmetrie und Regelmaß einen vorherbestimmten Platz besitzt. Diese Übersetzung wird geradezu demonstriert, indem die Natur, die einen sehr viel ungeordneteren Eindruck macht, durch das Gitter hindurch sichtbar ist. Die hohen Kiefern stehen in keiner erkennbaren Gleichmäßigkeit angeordnet; statt eines gezirkelten Barockgartens schaut man eher in einen englischen Park, der den einzelnen Pflanzen ihren natürlichen Wuchs belässt.
Es gehört nun zu den klassischen Bestimmungen des Schönen, Ordnung im Chaos und Einheit in der Vielheit erfahrbar zu machen. So ist zum Beispiel der barocke Garten in seiner Disziplin ein Ausdruck für das Bestreben, auch die Natur selbst menschlich nachvollziehbarer Ordnung zu unterwerfen und so zu verschönern. Die Verschönerung ist dabei kein Selbstzweck, sondern dient auch der Erkennbarkeit einer planenden Vernunft in der Welt. Deutlich sind die von Karin Kneffel dargestellten Gartengitter dieser barocken Stilsprache verpflichtet. Aus einer Vielfalt von Formen wird durch Rückführung auf Grundstrukturen, Abstraktion und Wiederholung ein klares Muster gewonnen. Selbst dann, wenn das Muster nicht in seiner Gänze überschaubar ist, wie in Kat. 14, entsteht dennoch die Vorstellung eines ordnenden Entwurfes, dem gemäß das Ornament, das wir nur ausschnittweise sehen, eine regelhafte Fortsetzung finden und eine in sich symmetrische Einheit bilden wird. Selbst dann, wenn wir die Ordnung selbst nicht wirklich nachvollziehen können, sind wir dennoch sicher, dass es eine solche gibt, weil wir wissen, wie gesetzmäßig diese Ornamente gebildet sind. Das Ornament ist nicht nur ein schmückendes und sonst belangloses Beiwerk, sondern ein Bild solcher aus der Wirklichkeit abstrahierten und angewendeten Gesetzmäßigkeiten. Doch selbst der so natürlich wirkende Park ist zweifellos kein von menschlicher Gestaltung unberührt gebliebenes Areal. Als solche ist Natur in unserer westlichen Kultur ohnehin kaum noch gegeben. Ein solcher Landschaftspark ist ebenfalls nach Prinzipen harmonischer und gewichtender Zusammenstellung entworfen und angelegt, so dass sich beim Spaziergang stets interessante Blicke ergeben. Auch ein solcher Garten ist auf eine bildhafte Wirkung hin gestaltet. Von ursprünglicher Natur und ihrer unmittelbaren pragmatischen Bedeutung für den Menschen ist so ein Park genausoweit entfernt wie das realistische Bild Karin Kneffels von der Tatsächlichkeit der Dinge, die sie darstellt. Auf der Ebene des Bildes wird alles gleich Bild. Die Künstlerin lässt diese Eigenschaft von Bildlichkeit erfahrbar werden. So sind die Stämme der Kiefern in ähnlicher Weise gemalt, wie die Stege des Gitters, recht glatt und mit einem sehr gleichmäßigen Verlauf der Nuancen - zuweilen sind beide schwer voneinander zu unterscheiden. Das Hintereinander von Gitter und Park, ihre „Künstlichkeit“ bzw. „Natürlichkeit“ gibt es in der Malerei faktisch nicht. Wie das Ornament schon von vornherein eine in der Fläche wirkende und von daher bildmäßige Wirkung entfaltet, treten im Bild alle Elemente in flächige, planimetrische Bezüge: Schwünge des Gitters umspielen einen gekurvten Baumstamm, der seinerseits Formkorrespondenzen zu Linien des Ornamentes aufnimmt, Voluten stoßen genau an die untere Bildkante und bestätigen diese dadurch, während ein anderer Baumstamm annähernd parallel zu einem Seitenrand verläuft und ihn so vorbereitet. Aus Teilen von Gegenständen werden Bildstrukturen, die, unabhängig von ihrer Beziehungslosigkeit in der Realität, zu einem komponierten Gemälde zusammengestellt werden. Ein Werk mit ganz anderem Sujet, Makkaroni auf einem Teller, der auf einem Ornamentfliesenboden steht (Kat. 20), macht diese Neudeutung der Wirklichkeit im Bild noch einmal deutlich. Besonderen Appetit löst der Anblick der Pasta nicht aus. Sicherlich liegt das mit an der genauen, aber merkwürdig unsinnlichen und gleichförmigen Wiedergabe der Makkaroni, die so „typushaft“ wirken. Im Vergleich mit den Ornamentfliesen erscheinen auch die Nudeln als, obschon ungleich komplizierteres Arrangement sich wiederholender Elemente. In diesem Werk spielt es ebenfalls für die Wirkung keine Rolle, dass das Fliesenornament bereits bildlich, die Nudeln aber als realer Gegenstand wiedergegeben sind: Es gilt auch hier, dass, einmal Bild geworden, alles gleich Bild ist. In einer weiteren Arbeit mit einem Kranz von Erdbeeren auf Sahnetuffs, die direkt auf eine karierten Tischdecke gesetzt sind (Kat. 19), wird das Dargestellte wiederum dadurch seiner lebensweltlichen Zusammenhänge entfremdet, indem es willkürlich verrätselt erscheint. In der Küche würde man einen solchen Erdbeerkranz auf Sahne, der zur Dekoration von Kuchen oder Pudding dienen mag, kaum direkt auf das Küchentischtuch platzieren. Auch hier ist auf der gegenständlichen Ebene keine Erklärung zu gewinnen. Auf der bildlichen hingegen wird die ornamentale Wirkung des Kranzes, der Sahnerosetten und des Karotuches durch ihr unmittelbares Übereinander verstärkt. Die Wertung der Bildgegenstände als Ornament geht auf Kosten ihrer vertrauten Bedeutung.


Fallobst, Blumen und Teppiche
Schon in frühen Arbeiten wie einer Landschaft, die mit Ziegeln übersät ist (Abb. 3) arbeitet Karin Kneffel mit der künstlerischen Strategie, das Motiv in eine abstrakte Bildstruktur umzudeuten. Die Abbildung, die stets die Tendenz hat, ihr Bildsein zu verleugnen, wird Bild. Ein späteres Werk, das Fallobst zeigt (Kat. 19) bildet aus den auffällig gleichmäßig und dicht an dicht liegenden Äpfeln ein Muster. Dabei wird das Unschöne und Hinfällige der in unterschiedlichen Stadien des Faulens dargestellten Früchte durch das Gesetzmäßige und Komponierte eines bildlichen Gefüges überlagert. Im Unterschied zu den „idealen“ Früchtebildern hat die Künstlerin hier, wie in den Feuerbildern, einen Gegenstand gewählt, der den Betrachter zunächst zurückstößt, um dann eine Gegenbewegung auf der Ebene des Bildmusters zu veranlassen. Doch in der Betonung der formalen Aspekte wird der Betrachter dem Motiv gegenüber emotional auf Abstand gehalten. Die Faszination des Bildlichen bleibt unsentimental. Gerade affektbeladene Motive macht Karin Kneffel immer wieder zum Material ihrer Bildkompositionen, um das Motiv vom abstrahierenden Bild unterscheiden zu können. So präsentiert eine weitere, mit den Gitterbilden verwandte Gruppe Wiesenblumen - Margeriten, Klee, Hahnenfuß - aus extrem kurzem Abstand und entsprechend monumental. Durch diesen „Vorhang“ vergrößerter Stengel und Blüten erblickt man viel weiter entfernt stehende Bäume (Kat. 15) oder sogar einen Berg (Kat. 14). Die Blumenwiese ist ein bevorzugtes Objekt nicht authentisch erlebten Scheinbetroffenseins - des Kitsches. Dieser erscheint in der Bergwiese noch gesteigert, indem sich die Blumen dem Berg - ebenfalls ein beliebtes Kitsch-Motiv - zuzuwenden scheinen und so gleichsam eine Vermenschlichung erfahren. Dem Kitsch, also der „falschen“, bedeutungslosen Gefühlsaufwendung, setzt die Künstlerin auch hier ihre Methode der „Bildwerdung“ des Motivs entgegen, indem die Bilddaten durch dominante Formkorrespondenzen in die konstellative Ordnung eines wohlarrangierten Musters eingebracht werden.
Im Ornament findet die „Bilderzeugung“ durch abstrahierende Strukturbildung ihren konsequentesten Ausdruck. Sowohl die Ornamentalisierung als auch die Distanzierung und Ortlosigkeit des Betrachters wird in Arbeiten Karin Kneffels, die Teppiche auf Treppen zeigen (Kat. 22, 23) wiederum selbst motivisch. Wie der Boden des Fallobstbildes durch die verstreuten Äpfel verstellt wird, die Blumenbilder mit ihrem „Blumenvorhang“ keinen Durchlass gewähren, so bilden die Teppichstufen und der über sie laufende Teppich formal eher Barrieren, als das er zu einem Weg in das Bild einladen würde. Es fehlt zudem ein Ziel, zu dem ein solcher Weg führen sollte. Auch die realistischen, abbildenden Elemente des Gemäldes sind einer auf das Bildgefüge bezogenen Sicht einzuordnen. Die Treppe und der Teppich sind, als ästhetisches Phänomen gewertet, unbetretbar - die Motivbedeutung wird gegen die Bildbedeutung ausgespielt.
Karin Kneffel führt in ihren Werken vor, dass jede ästhetische Sicht von Gegenständen in eine Distanz zu diesen tritt, aus der sie erst neu, eben ästhetisch gedeutet werden können. Diese neue Deutung konkurriert mit einer anderen, pragmatischeren Deutung der Dinge, die sich aus ihrem Verhältnis zum Menschen im täglichen Leben ergibt, und läßt das Bild als etwas Eigenes erscheinen. Doch ist Bildlichkeit nicht nur eine Erfahrung, die in Kunstwerken gemacht werden kann. Karin Kneffel hat selbst oft Motive gewählt, die schon in der Wirklichkeit durch Bilder geprägt sind. Von solchen Vorstellungen zeugen in Bezug auf Obst etwa EG-Normen und Werbung. „Wie gemalt!“ pflegt man zu sagen, wenn einem ein Apfel besonders gut gefällt. Die Bilder legen sich über die Wirklichkeit und bestimmen die Maßstäbe unserer Beurteilung. Sogar die Realität selbst vermittelt sich uns hauptsächlich über Bilder, denn schon unser Sehen ist von einem Bild auf der Netzhaut abhängig. Allerdings haben wir als Kleinkinder verinnerlicht, dass die Dinge auch dann existieren, wenn wir sie nicht anschauen. Die Kritik des „Übervaters“ aller Bildtheorie, Platon, geht davon aus, dass es zumindest gedanklich möglich sei, die Wirklichkeit und die Bilder sauber voneinander zu trennen: hier ist das „Sein an sich“ und dort sind die Bilder, die dem, was wirklich ist, nur ungenügend nahekommen können. Es gehört jedoch zu den die Moderne prägenden Erkenntnissen von Immanuel Kant bis Werner Heisenberg, dass die Bedingungen unserer Wahrnehmung, das, was wir von der „Wirklichkeit“ wissen können, erheblich formt und unhintergehbar sind. Auch die Wirklichkeit als das, was auf uns wirkt, ist von Bildern immer schon durchdrungen. Mit unserem Bewusstsein sind wir nicht selbst in der Welt, sondern mit ihr nur gleichsam künstlich über Sinnesorgane verbunden. Das Bild macht dieses Eingeschlossensein des Subjektes in den Körper auf einer Metaebene nachvollziehbar, indem es einsichtig werden lässt, dass die Dinge nicht als solche zu uns in Beziehung treten, sondern als deutungsbedürftige Erscheinungen. Wir haben es vor allem mit Deutungen der Welt zu tun, ob wir es mit den Dingen selbst zu tun haben muss zweifelhaft bleiben. Karin Kneffel zeigt in ihren Werken eine andere Deutung der Dinge, die der gewohnten nicht entspricht. An den Dingen selbst ändert sich dadurch nichts, sie sind so realistisch wie möglich wiedergegeben. Vor diesen Bildern wird aber deutlich, wie sehr wir darauf angewiesen sind, unseren eigenen Standpunkt zu diesen Deutungen zu klären – in der Wirklichkeit und in der Kunst.